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Bekränzter Eingang

Zur Ausstellung »Gesunde Nerven« im Gesundheitshaus Kreuzberg

Diese Ausstellung ist ein Glücksfall. Sie ist mit dem Andenken eines merkwürdigen Mannes verbunden. Ernst Joël, Stadtoberschularzt des Bezirkes Kreuzberg, der den Plan zu ihr gefaßt und ihre Gestaltung ein gutes Stück geleitet hat, war einer der seltenen Menschen, die einen ungewöhnlichen Einfluß auf Andere, eine mit höchstem Charme verbundene Führerenergie, die wir in Deutschland allzu oft an eitle, verbohrte, sektenhafte Schrullen verschwendet sehen, streng rational und restlos in die Dienste einer Sache, durchdachter, folgerechter Volksaufklärung stellte. Wenn dieser Mann in allen Wirkungskreisen, die er in seinem kurzen Leben ausmaß, nicht nur Spuren, nein, ein Gedächtnis hinterließ, so ist es darum, weil er so heilsam aus der deutschen Situation herausfiel. Daß gerade die stärksten und suggestivsten Naturen den freien und vernunftgemäßen Ort, der ihre Kräfte wirksam macht, nicht finden, daß sie in freireligiösen Siedlungen und völkischen Stoßtrupps, in Mazdaznanverbänden und Tanzgruppen sich verkapseln, aus dem Fanatismus einen Komfort machen und ihr Bestes verloren geben, das ist die chronische Katastrophe des Nachkriegsdeutschland. Ernst Joël hatte alles Zeug zum Fanatiker: die Überzeugung, die Rastlosigkeit und die Wirkungskraft. Ihm fehlte nur eines: der Hochmut. Und darum konnten diese souveränen Kräfte sich ungeteilt einem unscheinbaren aber fruchtbaren Felde zuwenden, das meist die unbestrittene Domäne der Bonzen bleibt: Medizinischer Volksaufklärung.

Was in solchem Glücksfalle das Ergebnis ist, zeigt diese Ausstellung. Da ist nicht nur die berühmte Kleinarbeit, nicht nur die organisatorische Seite der Sache bewältigt, da ist vielmehr an allen Ecken und Enden eine Überlegung, eine grundsätzliche Klarheit zu spüren, wie nicht Amtsstunden, sondern nur Monate passioniertester Tätigkeit sie erzeugen. Weder Joel noch einer seiner Mitarbeiter sind in Rußland gewesen. Desto interessanter, daß der erste Blick in den Räumen jedem der sie betritt, eine Vorstellung davon geben kann, wie es im Moskauer »Hause der Bauernschaft« oder im »Klub der roten Soldaten« im Kreml aussieht. Nämlich heiter, bewegt und freudig und so, als sei gerade heute, am Tage an dem du kommst, hier etwas ganz Besonderes los. Modelle, Transparente sind gruppiert, als hätten sie auf das Geburtstagskind gewartet, Statistiken schwingen sich wie Guirlanden von Wand zu Wand, an manchen Apparaten sucht man unwillkürlich den Schlitz, um sie durch einen Groschen in Bewegung zu setzen, so unfaßlich scheint es, daß hier alles umsonst ist. Bald kommen wir auch hinter einen Trick: der künstlerische Leiter dieser Schau, Wigmann, ist Zeichenlehrer. Er hat die Schulkinder für diese Ausstellung gewisse Themen »niedermalen« lassen. So sind aus dem »Tag des Abergläubigen«, aus den »Erziehungsfehlern unserer Eltern« eigensinnige, grellbunte Bilderfolgen geworden, zu denen nur die Leierkastentexte und das Stöckchen des Moritatensängers noch fehlen. Ganz davon abgesehen, daß die Aussicht auf solch vernünftige Verwendung ihrer Sachen die Lust der Kinder an der Arbeit steigert. Kinder können hier darum so gut vermitteln, weil sie ja die eigentlichen Laien sind.

Und Laien sind auch die Besucher dieser Schau und sollen es bleiben. Damit ist die Maxime der neuen Volksbildung im Gegensatz zur früheren ausgesprochen, die von der Gelehrsamkeit ausging und glaubte, mit Hilfe einiger Tabellen und Präparate dies gelehrte Wissen zum Eigentum der Masse machen zu können, zu sollen. Die Qualität, so sagte man sich, wird schon in Quantität umschlagen. Umgekehrt geht die neue Volksbildung von der Tatsache des Massenbesuchs aus. Quantität in Qualität verwandeln ist die Parole, ein Umschlag, der für sie identisch mit dem vom Theoretischen zur Praxis ist. Die Besucher sollen, wie gesagt, Laien bleiben. Nicht gelehrter sollen sie die Ausstellung verlassen, sondern gewitzter. Die Aufgabe der echten, wirksamen Darstellung ist geradezu, das Wissen aus den Schranken des Faches zu lösen und praktisch zu machen.

Aber was ist »echte Darstellung«? Mit andern Worten: was ist Ausstellungstechnik? Wende sich wer das wissen will an die ältesten Fachleute dieser Branche. Wir alle kennen sie. Frühen Unterricht haben wir bei ihnen genommen. Säugetiere, Fische und Vögel lernten wir gesattelt bei ihnen handhaben, alle Berufe und Stände lernten wir in der Tätigkeit kennen, in die unser Büchsenschuß sie versetzte, ja unsere eigenen Kräfte lernten wir an der »langen Jule« – dem Schreckbild, das auf einen Hammerschlag den Kopf aus einem Hohlzylinder vorreckt – messen. Die fahrenden Leute leben vom Ausstellen, und ihr Gewerbe ist alt genug, ihnen zu einem soliden Schatz von Erfahrungen verholfen zu haben. Sie sind aber alle um diese Weisheit gruppiert: um jeden Preis und jedem die kontemplative Haltung, das unbeteiligte und schnöde Mustern zu verlegen. Darum keine Schau ohne Karussells, Schießbuden, Muskelmesser, ohne Liebesthermometer, Kartenlegerinnen, Lotterien. Wer als Gaffer gekommen ist, soll nach Hause gehen als einer, der mitmachte – das ist der kategorische Imperativ des Jahrmarkts. Nicht so sehr durch ihre Dioramen, Transparente und Verwandlungsbilder, die übrigens mit den primitivsten Mitteln gemacht sind, sondern durch dieses In-Aktion-Versetzen des Besuchers kommt der Charakter dieser Ausstellung zustande. – Da ist das Stichwort »Berufsberatung«. Ein Kopf vor einer Scheibe, auf die Embleme, Situationen der verschiedensten Berufe montiert sind. Ein Stoß gegen die Scheibe, und nun scheint auch – es ist aber eine optische Täuschung – der Kopf sich in Bewegung zu setzen und sein resigniertes Pendeln zeigt an, wie er ratlos ist. Daneben eine Reihe Prüfungsapparate, an denen jeder, der Lust hat, seine Geschicklichkeit, seinen Farbensinn, seine Übungsfähigkeit, seine Kombinationsgabe feststellen kann. Das delphische »Erkenne dich selbst« lockt von jeder automatischen Waage. Der Jahrmarkt kennt es in dem Teufelkabinett, dem schwarz ausgeschlagenen Verschlag, in dem der Teufel unter dem Federhut seine Fratze zu bewegen scheint. Wenn du dich bückst, um sie zu erkennen, ist da ein Spiegel, aus dem du selbst dir entgegen blickst. Wigmann war klug; er hat auch das übernommen. Es gibt da eine Stube gegen den Aberglauben: »Wer glaubt das?« steht auf einer beweglichen Tafel, auf der Prospekte zur Schau gestellt sind. Du ziehst sie hoch und erblickst dich in dem Spiegel, der dahinter zum Vorschein kommt.

Was heißt das alles? Das heißt: echte Darstellung drängt die Kontemplation zurück. Um den Besucher, wie es hier geschehen ist, in die Schau hineinzumontieren, muß das Optische sich in Schranken halten. Verdummend würde jede Anschauung wirken, der das Moment der Überraschung fehlt. Was zu sehen ist, darf nie dasselbe, oder einfach mehr oder weniger sein, als eine Beschriftung zu sagen hätte. Es muß ein Neues, einen Trick der Evidenz mit sich führen, der mit Worten grundsätzlich nicht erzielt wird. Da soll z. B. der Vierteljahrskonsum eines Trinkers dargestellt werden. Nun hätte man sich begnügen können, eine ansehnliche Batterie leerer Wein- oder Schnapsflaschen aufzubauen. Statt dessen legt Joel neben die Tafel mit Aufschrift ein schmutziges Zettelchen mit den Spuren vielfacher Kniffe: die Vierteljahrsrechnung bei dem Weinhändler. Und während die Weinflaschen den Text zwar beleuchten, selbst aber wenig durch diese Zusammenstellung verändert werden, fällt plötzlich auf das Dokument, die Rechnung, ein neues Licht. Es erregt, weil es richtig montiert ist, Aufsehen.

Montage kennt die Budenschau freilich nicht. Hier bricht der Anschauungskanon unserer Tage, der Wille zum Authentischen, ein. Montage ist ja kein kunstgewerbliches Stilprinzip. Sie entstand, als es gegen Ende des Krieges der Avantgarde deutlich wurde: die Wirklichkeit hat nun aufgehört, sich bewältigen zu lassen. Uns bleibt – um Zeit und einen kühlen Kopf zu bekommen – nichts weiter übrig, als sie vor allem einmal ungeordnet, selber, anarchisch, wenn es sein muß, zu Worte kommen zu lassen. Die Avantgarde waren damals die Dadaisten. Sie montierten Stoffreste, Straßenbahnbilletts, Glasscherben, Knöpfe, Streichhölzer und sagten damit: Ihr werdet mit der Wirklichkeit nicht mehr fertig. Mit diesem kleinen Kehricht ebenso wenig wie mit Truppentransporten, Grippe und Reichsbanknoten. Als die neue Sachlichkeit sie schüchtern zu desavouieren und Ordnung zu stiften wagte, hätte diese Entwicklung am Film, der nun so unabsehbar großes Dokumentenmaterial ergab, den stärksten Anhalt gewinnen müssen. Aber die Amüsierindustrie, die die technischen Möglichkeiten nur entwickelt, um sie dann lahm zu setzen, hemmte auch dies. Immerhin: sie schulte den Blick fürs Authentische. Was ist nicht alles authentisch, ohne daß wir uns im Vorübergehen davon Rechenschaft geben? Was wird für den, der den Prozeß gegen Ausbeutung, Elend und Dummheit rücksichtslos führt, nicht alles zu einem corpus delicti? Den Veranstaltern dieser Ausstellung war nichts wichtiger als diese Erkenntnis und der kleine Chock, der mit ihr aus den Dingen springt. Im »Saal des Aberglaubens« hat man eine Kartenlegerin errichtet, an der von Geld und Spielkarten auf dem Tisch bis zu dem gelbgrauen Chignon fast alles echt ist; wer davor steht, fühlt sich nicht belehrt, sondern einfach ertappt. Er wird – auch wenn er noch bei keiner war – »nie wieder« hingehen.

Kluge Fallen, die die Aufmerksamkeit locken und festhalten. Was von Texten übrig bleibt, sind Parolen. »Die Durchbrechung des Achtstundentags raubt dem Arbeitenden die Möglichkeit, an den Errungenschaften der Kultur Anteil zu nehmen. Das ist Tod aller geistigen Hygiene.« – Oder: unter einem Interieur aus dem Arbeitsamt ein Foliobogen, der in zehn Kolonnen von oben bis unten nur immer mit dem Worte »Warten« bedruckt ist. Er sieht aus wie die Börsennotierungen einer Tageszeitung. Quer darüber mit fetten Buchstaben: »Der Kurszettel des armen Mannes.« Wenn etwas fehlt, so ist es am Eingang, wo der Satz hätte Platz finden sollen, der hier so glänzend bewiesen wird:

Langeweile verdummt, Kurzweil klärt auf.