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»Wat hier jelacht wird, det lache ick«

Wer sich kurz fassen will, muß die Dinge packen, wo sie am paradoxesten sind. Zumal wenn ihr Paradoxon auf der Hand liegt. Berlinisch – der Dialekt einer Großstadt, in der seit langem alle deutschen Stämme, seit kurzem alle europäischen Nationen einander treffen, sich vermischen und mit steigender Umdrehungsgeschwindigkeit aneinander sich abschleifen. Wie ist das Phänomen überhaupt möglich? Und müßte es nicht von Rechts wegen schon seit Jahrzehnten auf dem Aussterbeetat stehen? Selbstverständlich, wenn es auf räumlicher Isolierung, auf der Reinblütigkeit der Bevölkerung, kurz auf »regionalen Belangen« beruhte. Aber davon ist gar keine Rede. Von jeher ist der Berliner Dialekt – wie der der anderen Großstädte – viel weniger an das Lokal als an das Tempo des Daseins gebunden. Dies Tempo aber wird diktiert von der Arbeit. Schon in den Glaßbrennerschen Texten, den Hosemannschen Zeichnungen der Biedermeierzeit tauchen ganz bestimmte Berufstypen – der Schusterjunge, das Marktweib, der Budiker, der Straßenhändler – als Träger des Dialekts und des Dialektwitzes auf. Das Zille-Album von heute zeigt andere Typen; viele davon entstammen einem Lumpenproletariat, an dem gemessen Glaßbrenners Eckensteher Nante ein Grandseigneur ist. Sie sprechen ein Berlinisch, das viel aus der Ganovensprache entlehnt hat und ihr vieles zurückgibt. Aber auch das ist die Sprache einer Berufsgemeinschaft. Für die Großstadt bleibt das Argot in seinen hundert einander überschneidenden Spielarten die eigentliche Pflanzschule des Dialekts. Das gibt von der unübersehbaren Mannigfaltigkeit seiner Ursprünge den rechten Begriff: Mannschaftsstube und Skattisch, Kaschemme und Schulklasse, Leihhaus und Sportpalast steuern das Ihre bei.

Das allein aber macht noch nicht die ganze, noch nicht die schärfste Paradoxie dieses Dialekts. Der ländliche kann einer gewissen Naivität, einer harmlosen Selbstverständlichkeit sich erfreuen. Zwar desavouiert ihn jeden Morgen die Zeitung; aber das will nicht viel sagen, denn hier decken sich die Grenzen von Schriftdeutsch und Hochdeutsch. Nicht so für den Berliner, der den Archipel seiner Muttersprache ununterbrochen von einer nicht nur papiernen Flut von Hochdeutsch umbrandet fühlt. Man kann von ihm in Dingen seiner Ausdrucksweise unmöglich die Unschuld eines niederdeutschen oder alemannischen Bauern erwarten. Sein Verhältnis zum eigenen Dialekt ist ein höchst gespanntes und reflektiertes. Mehr als eine und manche von den rühmlichsten Eigenarten des Berlinischen rührt daher. Am offenkundigsten freilich ein Ausfall. Es gibt nämlich, selbstverständlich, im berlinischen Schrifttum nichts, was neben den alemannischen Gedichten eines Hebel, den niederdeutschen eines Klaus Groth, der Prosa eines Gotthelf oder sogar Reuter sich zeigen könnte oder auch nur wollte. Der Berliner hielt mit seinen Spracheigentümlichkeiten bescheiden, um den Ruf seiner Bildung besorgt, zurück.

Müßte man wirklich erst die Psychologie eines Alfred Adler sich zu eigen machen, um die berühmte »Berliner Schnauze« als Überkompensierung eines Minderwertigkeitskomplexes zu erkennen, als den Krakeel, der nur die innere Stimme übertönen soll? Wir wagen jedenfalls diese Deutung. Wir kennen den Berliner nicht anders als mit dem »Sinn fürs Höhere«, als dessen fernste verschwimmende Alpenspitze die »Idee« ihm vor Augen schwebt. Die »Idee«, von der der Berliner nur spricht, wenn er etwas ganz, ganz besonders Winziges meint. Kennen ihn nur mit dem eingeborenen Respekt für »jroße Männer« und mehr noch für deren Denkmal, bis eines Tages in irgendeiner seiner Explosionen der Volkswitz seine Emanzipation von ihm vollzieht. Und um nun auf den Dialekt zurückzukommen: Es ist bezeichnend, daß die erste Stimme, die den Berlinern über ihre Sprache zu Ohren kam, eine Strafpredigt war. 1781 veröffentlichte Karl Philipp Moritz seine Schrift »Über den märkischen Dialekt«, eine aufklärerische Kritik, die dem Berlinischen seine undurchschaubare Zwitterstellung zwischen dem Hoch- und Niederdeutschen zum Vorwurf machte. Daß schon damals das gute Sprachgewissen seiner Bürger erschüttert war, zeigt die Anekdote des Verfassers von der Gesellschaft, die »hier in Berlin, unter sich ausgemacht hatte, eine eigne Armenbüchse, zu dem Ende, zu halten, um für jeden Sprachfehler, den sie in der gesellschaftlichen Unterredung machen würden, einen Dreier in dieselbe zu erlegen; und was das auffallendste war, so fand man diese Armenbüchse, in wenigen Stunden, von Dreiern angefüllt. Ob nun die Anzahl dieser Personen vielleicht sehr groß, oder der Raum in der Armenbüchse sehr klein gewesen seyn mag, kann ich nicht so genau bestimmen.« Gerade in sprachlichen Dingen trat ja das »Höhere« dem Berliner sehr drastisch bei den Emigranten in Gestalt der französischen élégance vor Augen. Erbschaft von ihnen sind nicht nur die vielen französischen Wendungen oder Endungen – »nich in die la main«, »ete petete«, »mit 'nem avec«, »Bagage«, »Kledage« etc. –, sondern auch die »vornehme« Aussprache »Grammophong«, »Telephong«. Einem ähnlich skrupulösen, aber schlecht beratenen Sprachgewissen entstammt das r, das der Berliner – der es in betonten Silben bekanntlich verschleift – Fremdwörtern als Respektsbezeugung verleiht: »Karnallie« für »Canaille«, »Kartarr« für »Katarrh«.

Das Sprachgewissen des Berliners ist also bedeutend zarter besaitet, als man es seinem Ruf nach vermuten sollte. Und nicht das Sprachgewissen allein. Man lese doch Fontane, um zu erkennen, wie leicht die Rührung dem märkischen Menschen und wie sehr sie ihm aus der märkischen Landschaft kommt, in der der Windhauch in den Fichten das einzig Erschütternde ist. Wenn er auch sagt: »Es ist rührend, wenn man dran wackelt«, so wird's auf zehnmal neunmal sein, um eine echte Rührung zu verstecken. Ja wenn der Dialekt spezifischer ist als die Nationalsprache (wie der Wein spezifischer als die Rebe), wenn man nach seinem Aroma forschen dürfte, fände der Kenner die innigste Würze dieses Dialektes vielleicht in einer Durchdringung des Zartesten mit dem Rohen, wie einmal ein Freund sie in einer Wendung, bei der Beratung einiger dunkler Existenzen, erhaschte. Es ging darum, einen Dritten unschädlich zu machen: »Den lehn' wa an de Wand.«

Im Zentrum der Stadt hat vor einiger Zeit eine Maschinenfabrik ihre Niederlage eröffnet. Zur Feier des Tages war das Schaufenster ganz mit Blumen gefüllt, nur hie und da leuchteten hinter den Blütenblättern die polierten Kurbelwellen und Schwungräder auf. Es war ein sehr berlinisches Bild. Ganz neue stahlharte Sachlichkeit durch die Blume. So sagt der Berliner, wenn er einem die Faust weist: »Hast woll schon lange nich an det Knochenbukett jerochen.« Er sagt auch in genau derselben Verfassung: »Sonst sollste mit Verjißmeinich handeln.« Gerade seine nachdrücklichsten Drohungen kommen sachte heraus. Dieses »sachte« spielt eine große Rolle nicht nur im Sprachschatz, sondern vor allem als Zeitmaß der Sprachbewegung. Denn der Berliner spricht als Kenner und mit Liebe zu dem, wie er's sagt. Er kostet es aus. Wenn er schimpft, spottet und droht, will er dazu sich Zeit nehmen, genau wie zum Frühstück. »Alle Zähne wer'k dir ausschlagen. Aber een laß ick dir stehn fors Zahnweh.« Diesen Satz hörte ich, fast getragen, in einer Rempelei zwischen Straßenjungens. »Immer sachte« – das gibt das Zeitmaß des gemütlichsten Beisammenseins wie der drohendsten Auseinandersetzung.

Freilich, wenn's sein muß, kann der Berliner auch anders. Als der Expressionismus mit seiner geballten, gestuften und gesteilten Sprache ins Land kam, ließ er sich nicht lumpen. Er zeigte den Literaten, »was ne Harke is«, und brachte die Wendung auf, der an Kürze und Sprachgewalt von Sternheim bis Becher nichts gleichkam. Sein großes: Bei mir. »Bei mir: Katze« (mies), – »Bei mir: Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche« (Türme, d.h. »verdufte«), – »Bei mir: Schiefertafel« (Auf mir könn' se rechnen). Solche Wendungen hat man vielfach gesammelt und dem Berliner einen schlechten Dienst damit erwiesen. Denn immer ist der Sprachwitz Improvisation und Zeit und Umstände seines Entstehens geben auch dem scheinbar Gröbsten noch das unvergleichliche Aroma, ohne sie aber beginnt er bald schal und verweslich zu riechen. Danach mag man von dem Dunstkreis mancher berlinischer Dialektbücher sich einen Begriff machen. Immer wird der Geist dieser Sprache aus einem Wörterbuche viel reiner als aus jedweder Kollektion von Witzen hervorgehen. Aber freilich läßt ein Dialekt sich auch lexikalisch nicht ausschöpfen. Jedes wahre Studium führt auf seine Grammatik (s. dazu das Standardwerk: H.G. Meyer: Der Richtige Berliner in Wörtern und Redensarten. 9. Aufl.), und von da noch weiter auf Mimik und Physiognomik, auf die unübersetzbaren Gesten.

Im allgemeinen ist der Berliner sparsam mit weitausholenden Gebärden. Sie liegen seinem phlegmatisch-sanguinischen Typus nicht. Immerhin kennt er – vielleicht aus dem Boxsport – eine provozierende Ausfallsbewegung des Ellenbogens, die das Wort »Mensch knorke« begleitet oder ersetzt. Auch den Griff unters eigene Kinn zu der geheimnisvoll abschätzigen Wendung »So jung«. Oder den berühmten Fingerzeig an die Schläfe. Dieses Gebiet der Geste ist ein Grenzbezirk auch darum, weil das Unbestimmte, Mystifizierende, das jedem Dialekte hin und wieder eignet, hier leicht die Oberhand bekommt und dann am Ende den Ausdruck nicht nur unübersetzbar, sondern undeutbar macht. Wenn der Berliner mit einem vielsagenden Aufblick »von wejen« sagt, so liegt auch das im Grund schon jenseits der artikulierten Sprache.

Aber kommt denn am Ende die Betrachtung des Dialekts nicht irgendwie mit dem geläufigen Bilde zusammen, das »überall im Reiche« vom Berliner kursiert? Der selbstbewußte kesse Junge mit der großen Schnauze, der helle Bengel, dem immer noch die Lichter der Aufklärung aus den Augen kucken – ist das Fabel? Gottseidank nein. Es ist Wahrheit. Aber auch nur die halbe. Gewiß, was sich da breitbeinig aufbaut und fragt: »Stimmt's oder hab ick Recht?«, bei wem das Maul so groß geraten ist, daß sogar Substantive drin zu Adjektiven werden – »klasse Sache« sagt der Berliner im Sinne von »ganz was Feines« –, der wird schon »von hier« sein. »Kommt nicht in Frage« mag noch reichsdeutsche Geltung haben; »knif« aber, die firmierte Ablehnung aus seinen Anfangsbuchstaben, ist schon berlinisch. Soweit die Keßheit.

Nur daß der schnell mit diesen groben Begriffen ans Ende käme, der versuchte, mit ihnen den Zugang ins Innerste dieser Sprache sich zu erschließen, in ihre dichte, exzentrische Bilderwelt. Die Schnoddrigkeit, die Schnödigkeit des Berliners, sie sind nicht nur die Folgen eines gottlosen Rationalismus, sondern vor allem anderen Ausdruck einer wunderbar trainierten Beobachtungsgabe. Seine innerste Haltung dem Leben gegenüber ist kontemplativ. Er ist so sehr Philosoph, so wenig der abgebrühte, ausgekochte Großstädter, daß er eine geniale Kraft, sich zu wundern, sich bis heute bewahren konnte. Wenn André Gide einmal der pseudophilosophischen Maxime »nil admirari« die wahre »omne admirari« entgegenstellte, so hat er dem Berliner seine Devise geschrieben. Aber die beste Definition des Philosophen, des berlinischen nämlich, gab 1922 ein Kellner im Romanischen Café dem Gaste, der sich darüber wunderte, daß die Tasse Kaffee wieder einige Millionen teurer war als am Vortag, da doch der Dollar nicht gestiegen war. Dem gab dieser große Berliner Kellner zur Antwort: »Wissen se nich, was die Devise ist, heute: Philosoph sein; nur nich denken; Philosoph sein.« Und damit meinte er doch wohl: Sich im stillen wundern. Vielleicht hat keine Sprache, kein Dialekt eine solche Fülle von Ausdrücken für dies stille Staunen wie dieser. Vom topographisch-archäologischen »Ick stehe wie die Kuh vorm neuen Tor« bis zu dem erschütternden »Da staunste Bauklötzer« durchmißt die Achse der Verwunderung alle Reiche der Natur – »Ick denkender Affe laust mir«, »Ick fall vom Stengel« – und wagt sich (sonst um keinen Preis) in den Himmel: »Mann Jottes!«.

Was ihn eigentlich die ganze Zeit wundert? Nun, vielleicht ist der Grund wirklich sein lästerlicher Rationalismus, vielleicht sind seine Anmutungen an die Verständigkeit des Weltlaufs so grotesk und exzentrisch, daß er sich wie ein Lebewesen von einer anderen Welt auf dieser vorkommt. »Au Mensch« kann manchmal so einen Ton haben, und gewiß hat ihn die Gebärde des Kutschers, der eines Tages mit den Worten »Mensch, du hast woll 'nen Vogel« sein Pferd an die Stirn tippt. Zahllose Redewendungen gibt es, in denen der Berliner so auf Gulliverische Art sein Liliput von Wirklichkeit aus den Angeln hebt. Und die besten sind noch nicht einmal Redewendungen, sondern Zufallsbildungen, die nur das Glück erhascht. Ich denke an den Chauffeur, den eine Panne zwang, unter den Wagen zu kriechen. Ein Auflauf. Unter den Vordersten beginnen ein paar zu kichern. Da tauchte hochrot der Mann unter seinem Gestell hervor: »Wat hier jelacht wird, det lache ick.« Es ist kein Zufall, daß selbst alte Berliner Witze diese exzentrische Geste schon kennen. Den Frühlingswunsch des Schneidermeisters: »Mutter, lang mir mal 'nen Blumentopp aus'n Fenster; ick will mir mal en bisken in't Jrine setzen«, könnte man, wenig verschoben, heute Grock nachfühlen.

Derselbe schwer entzifferbare, aber höchst bedeutende Zusammenhang, der den großen Exzentrik zum Zeitgenossen der neuen Sachlichkeit machte, hat von jeher latent in der Sprache des Berliners gewirkt. Es ist darum kein Zufall, daß der zum ersten Male seit siebzig Jahren nun wieder seine Stadt und seine Sprache eingeständlich zu lieben begonnen hat. Früher, als er denkt, werden auch Werke da sein, die zeigen, wie sich die Potenzen dieser Sprache an wichtigen Gehalten unserer Gegenwart bewähren. Alfred Döblins »Berliner Alexanderplatz« könnte nach allem, was bisher davon bekannt ist, vielleicht so ein Werk werden. Gerade dann freilich wird der echte Berliner erklären: »Mein Name ist Hase.« Aber im stillen wird er denn doch die »Mache« bewundern und nicht leugnen, daß es »jekonnt« ist.