Russische Debatte auf Deutsch
Die Bourgeoisie, hat der große spanische Staatsphilosoph Donoso Cortés gesagt, ist die ewig diskutierende Klasse. Dieser verächtlichen und tiefgründigen Bezeichnung liegt die abschätzige Meinung vom Diskutieren zugrunde, die ja auch heute die verbreitete ist. Es gehört sogar zur Signatur der Nachkriegszeit, wie sehr ihr der Geschmack an Debatten vergangen ist. Der Verfall der Beredsamkeit, die Gleichgültigkeit gegen jede Privatmeinung, die verminderte politische Toleranz, der erwachende Sinn für Autoritäten sind die Hauptursachen dieser Entwicklung, die heilsam ist, die man fördern soll, deren Umschlag sich aber doch bereits absehen läßt. Und zwar wäre das kein modisches Umschlagen, indem ein Überwundenes von neuem aufkäme, vielmehr ein Umschwung im Wesen der Diskussion, die ja durchaus nicht jene planlose, uferlose Sache zu sein braucht, als die wir sie verachten gelernt haben. Um etwas anderes zu werden, muß sie allerdings den verlogenen Grundsatz aufgeben, sie sei eine Veranstaltung, kraft deren Gegner einander zu überzeugen – oder gar miteinander sich zu verständigen – suchten. Auf der anderen Seite muß sie genau so den demagogischen Zug aufgeben, wie ihn – im besten Fall – die Reichstagsreden haben, wenn sie zum Fenster hinaus und nicht in den Schlafsaal hinein gehalten werden. Wie aber eine nützliche Debatte aussehen könnte, das hat man selten genug zu erfahren Gelegenheit und darum verdient eine Diskussion festgehalten zu werden, die sich in Berlin bei einer der letzten Versammlungen des »Vereins der Freunde des neuen Rußland« ergab.
Der Vortragende, Prof. O. Brick aus Moskau, erklärte von vornherein, eine polemische Ansprache halten zu wollen. Seine Gegner allerdings – das verbog die Achse seiner Ausführungen ein wenig –, sucht er in Moskau, nicht hier. Wer sind sie? Nun, zunächst einmal alle russischen Dichter, deren Namen das deutsche Publikum je hat nennen hören, angefangen von I. Babel aus der Budjonnyschen Reiterarmee bis zu Panferow, der die Genossenschaft der Habenichtse auf seinem Dorfe entstehen sah. Die Argumente? Ja, ehe wir die mitzuteilen wagen, müssen wir sie bereits in Schutz nehmen, so grotesk werden sie einem Europäer erscheinen. Es wird also gut sein zu wissen, daß Brick ein Veteran der Revolution ist, daß er als Student die Bewegung von 1905 mitmachte, später unter den ersten war, die sich zum integralen Bolschewismus bekannten, daß seine Leidenschaft und sein Denken dem Neuen gelten, und daß sein Programm weit entfernt ist, das maßgebende für die Dichter in Rußland zu sein. Wen aber – hier oder bei ihm zu Hause – die Naivität seiner Argumente chockieren sollte, der möge sich erinnern, daß nicht alle, vor allem nicht die wichtigsten Kunstdebatten, angefangen von der platonischen, die dem Staat den Dichter verbietet, mit ästhetischen Begriffen geführt worden sind. Und bestimmt kann man das von einem Kampf nicht erwarten, der sich gegen die Existenz der Kunst selbst richtet. Freilich würde Brick dies letzte wohl nicht glatt einräumen. Er hat davon nicht gesprochen und nur gefordert, daß Kunst sich restlos in den Dienst der Propaganda stelle. Wie fern er aber dabei der uns vertrauten Debatte über das Recht der Tendenz steht, beweisen am besten seine Beispiele. Da ist Panferow mit seiner »Genossenschaft der Habenichtse«, bestimmt ein schöner Roman; immerhin der Form nach ein Roman wie andere, die Menschen darin sind realistisch abgeschildert; vorsichtiger: geschildert wie wir sie zu sehen gewohnt sind. »Aber«, fragt Brick, »was soll uns das? Was soll uns der arme Bauer, der ein tüchtiger Kommunist ist, aber freilich ein Trinker? Oder was soll uns der reiche Bauer, der ein Ausbeuter ist, aber freilich ein gute:; Herz hat? Ist ein Bauer, der trinkt, ein Kommunist? Ist das gute Herz eines Ausbeuters etwas Gutes?« Oder – und hier wird der bilderstürmende Ingrimm seiner Betrachtung noch deutlicher – Babel hat Budjonnys Reiterarmee geschildert. »Aber«, hat Budjonny gesagt, als er das Buch zu lesen bekam, »in Wirklichkeit war das alles ganz anders. Meine Leute hatten mit denen, die Babel darstellt, gar nichts zu tun.« »Und«, fährt Brick fort, »was für einen Sinn hat es, eine historische Wirklichkeit, die wir alle erlebten und die kontrollierbar ist, auf ›interessante‹ Art zu verwandeln?« Wenn aber Brick hier für historische Treue eintritt, so greift er doch an anderen Stellen erbittert die an, die Objektivität sich zum Grundsatz in ihrer Epik machen. Sachliche Objektivität und poetischen Individualismus erklärt er für Komplemente, für verschiedene Seiten ein und derselben literarischen Haltung, der bürgerlichen. Wie erklärt sich der Widerspruch? Einfach. Was ihn für minutiösen Realismus hier, dort gegen objektive Haltung einnimmt, ist in beiden Fällen das gleiche: der Grundsatz vom Primat des revolutionären Stoffes.
Die ganze Diskussion kreiste um diesen Grundsatz. Und spannend war sie, wenn es ihr auch nicht gelang, ganz in die Perspektiven Bricks zu dringen, für welchen revolutionärer Stoff wohl minder dem Gewesenen, und sei es den zehn Tagen, die die Welt erschütterten, entstammt, als stets der jeweils aktuellen Losung. Couragiert trat Wieland Herzfelde, der Leiter des Malik-Verlages, für die Rechte des Buches gegen die Drucksorten, des objektiven Romans gegen die taktisch visierte Propaganda-Erzählung auf. Und als er gerade für das Gros der Leser sehr substantielle Bücher verlangte, in die sie sich hineinlesen, über deren Helden sie sich vergessen können, da nur von solchen die Massen bewegt werden – »Romane von Mark und Knochen« hat Hugh Walpole sie in einem vortrefflichen Aufsatz einmal genannt – da hätte ein Leiter des russischen Staatsverlages ihm wohl beistimmen müssen. Aber was soll man Brick erwidern, wenn er zum Beispiel auf das Vielen geläufige »Zement« von Gladkow verweist, um den Widersinn aufzuzeigen, der darin liegt, daß das Regime die Familie für belanglos erklärt, seine Erzähler aber ihre Geschichten aus dem Leben der Sowjet-Union in die alte Form des Familienromanes kleiden? Schade, daß er sich nicht weiter vorwagen wollte und es einem Diskussionsredner überließ, das Programm einer Propagandaliteratur deutlicher auszusprechen. Der ging mit Recht von der Frage, was wahre Wirkung sei, aus, um sich durchaus von bloß suggestiver oder demagogischer Wirkung auf Massen unbefriedigt zu erklären und der Propagandaliteratur Wert nur als didaktischer zuzusprechen. »Wir sind bereit«, so sagte er, »die Individualität des Dichters, den Ewigkeitsanspruch der Werke, die Objektivität der Schilderung preiszugeben. Nicht aber, um eine primitive Suggestiv- und Schlagwörterliteratur dafür einzutauschen, sondern um für ein autoritäres Schrifttum den Weg freizumachen. Wir wollen beim Lesen die genießende Haltung durch eine lernende, übende ersetzt wissen, nicht aber durch hirnlose Reaktionen.« Soweit gut. Man hatte die extreme Position des Redners von verschiedenen Seiten in Frage gestellt, nicht aber seine »Plattform«, wie man in Moskau sagt. Kaum einer im Saale, vielleicht nicht einmal der Referent, wußte, wer das war, der nun zum Schluß aufstand, um leidenschaftlich, weitausholend, überzeugt, nicht nur den Redner, sondern seine »Plattform« zu vernichten. Dennoch ist Bela Illesz – so hieß er – in Deutschland kein Unbekannter. Wir haben von ihm einige Bücher in Übersetzung. Für Rußland aber ist er mehr als Autor. Lange hat er im Kultusdepartement als Zensor eine Rolle gespielt und als Anwalt des Staates, als Vertreter einer offiziösen und orthodoxen Richtung – so wenigstens suchte er's darzustellen – ergriff er das Wort: »Wer seid ihr? Eine sture, winzige Minderheit, ein nichtssagendes Grüppchen. Ihr wollt hier Lärm machen? Ihr erinnert euch nicht der Verfügung des Z.K. (Zentral-Komitees) eben die Klassiker – Puschkin, Dostojewsky, Tolstoi zu studieren, die ihr hier angreift? Ihr sagt: Nicht dies sind die Vorfahren der proletarischen Literatur. Unsere Vorfahren, sagt ihr, sind unbekannt, aber darum sind sie nicht weniger groß. Der Begriff einer russischen Literatur selber, sagt ihr, sei reaktionär. Die Autoren des internationalen Proletariats seien unsere Ahnen? Von wem aber sollen unsere jungen Autoren lernen? Was sollen unsere Arbeitermassen lesen, wenn sie die Zeitung beiseite gelegt haben? Wie wollt ihr den Einzelnen für die Sache gewinnen und festhalten, wenn ihr ihm die Möglichkeit nehmt, am Helden sich zu begeistern, ihm nachzueifern? Ihr macht gegen den Roman eure Vorbehalte. Seine Objektivität stört euch, sagt ihr. Ist vielleicht – hier wirft der Redner das Lasso seiner Argumentation zum entscheidenden Fang aus – die objektive Wirklichkeit des Sowjetstaates etwas, was man verbergen muß, was der Propaganda schädlich sein könnte? Ist nicht die objektive Schilderung unseres Lebens das allerbeste Propagandamittel?«
Diese Rede, eine Disputationskunst in nuce, mag vielen, die sie hörten, bemerkenswert vorgekommen sein. Und vielleicht hat ihr Schluß manche an den berühmten Anfang der Hexenprozesse erinnert. »Glaubst du, daß es Hexen gibt?« wendet der Großinquisitor sich an die Delinquentin. Wenn sie erwidert »ja«, fährt er fort: »Woher hast du denn dieses Wissen?« Auf »nein« aber heißt es: »Dann bist du ein Ketzer, denn die heilige Kirche lehrt, daß es Hexen gibt.« Man hätte aber sehr unrecht, sein Urteil sich auf Grund von Analogien zu bilden, und wenn es die stimmigsten wären. Die russische Revolution hat mit einem Umstand zu rechnen, der für Europa zu den Ausnahmen zählt: daß nämlich, was gedacht wird, Folgen hat. Und zwar Folgen ebensosehr kraft des enormen Apparates der in Rußland der Verbreitung von Ideen zu Diensten steht, wie hierzulande der Verbreitung von Seidenstrümpfen oder Zigaretten, wie kraft der Unberührtheit der Massen, die die Revolution zum ersten Male mit Ideen durchdringt. Und darum muß sie, was gedacht wird, kontrollieren. Sie muß die Ideen ins Kreuzverhör nehmen, denn die Gerichtsverhandlung ist und bleibt das Schema eines Vorganges, in welchem Worte in die Waagschale fallen. Freilich, ein Arm muß sein, der die Waage hält. Den Arm der Justitia durch den der Revolution ersetzt zu sehen, war das Lehrreiche dieses Abends.