André Gide und Deutschland
Gespräch mit dem Dichter
Es war einer der ersten Kritiker Frankreichs, der mir, als ich vor wenigen Wochen ihn sprach, auf meine Frage: »Wer unter den großen Franzosen erscheint Ihnen seiner Gestalt, seinem Werk nach uns am verwandtesten?« die Antwort gab: »André Gide.« Ich will nicht leugnen, daß ich sie, wenn nicht erwartet, so erhofft hatte. Vermeiden wir aber ein naheliegendes Mißverständnis: Wenn Gide, der Mann, der Denker, in gewissen Zügen eine unleugbare Verwandtschaft mit dem deutschen Ingenium hat, so heißt das nicht, er käme, als Künstler, den Deutschen entgegen, mache es seinen deutschen Lesern leicht. Ihnen nicht und nicht seinen Landsleuten.
Das Paris, dem er entstammt, ist nicht das der ungezählten Romanschreiber und des internationalen Komödienmarkts. Anlage und Familie binden ihn mehr als an diese Stadt an den Norden, die Normandie und vor allem den Protestantismus. Man muß ein Werk wie die »Porte étroite« lesen, um zu erkennen, mit welcher Liebe Gide diese Landschaft umfangen hält, und wie sehr die asketische Leidenschaft seiner jungen Heldin diese Landschaft in sich befaßt.
Ein moralistischer, reformatorischer Zug ist seinem Werk von Anfang an eigen gewesen; produktive und kritische Energie sind bei kaum einem Dichter enger aneinandergebunden gewesen als bei ihm. Und ob es vor dreißig Jahren der Protest des jungen Gide gegen den primitiven, unfruchtbaren Nationalismus Barrès' war, ob heute sein letzter Roman, die »Faux-Monnayeurs« eine schöpferische Korrektur der landläufigen Romanform aus dem Geiste der romantischen Reflexionsphilosophie vornimmt – in diesem Einen: vom Gegebenen, ob er es draußen oder in sich selber fand, nur immer abstoßen zu müssen, ist dieser Geist sich durchaus treu geblieben.
Wenn darin das Wesen dieses als Dichter wie als Moralisten gleich bedeutenden Autors liegt, so sind es zwei Große, die ihm den Weg zu sich selber gewiesen haben: Oscar Wilde und Nietzsche. Vielleicht hat der europäische Geist in seiner westlichen Gestalt im Gegensatz zu seinem östlichen Gesicht in Tolstoi und Dostojewski nie deutlicher als in dieser Dreiheit sich dargestellt. Wenn dennoch später, als der Dichter die Rede auf das bringt, was er dem deutschen Schrifttum zu verdanken hat, der Name Nietzsche nicht gefallen ist, so mag es sein, weil von Nietzsche reden für Gide in einem allzu intensiven, allzu verantwortlichen Sinne von sich selber handeln hieße. Denn der würde wenig von Gide erfaßt haben, der nicht wüßte, daß Nietzsches Gedanken ihm mehr waren als der Aufriß zu einer »Weltanschauung«. »Nietzsche«, so hat es Gide gelegentlich in einem Gespräch gesagt, »hat eine königliche Straße dort gebahnt, wo ich nur einen schmalen Pfad hätte anlegen können. Er hat mich nicht ›beeinflußt‹; er hat mir geholfen.«
Es ist Bescheidenheit, wenn von alledem heute kein Wort fällt. Bescheidenheit: diese Tugend hat zwei Gesichter. Es gibt die vorgegebene, die gedrückte, die gespielte des Kleinen und die erwärmende, gelassene, wahre des Großen. Sie strahlt überzeugend aus jeder Bewegung des Mannes. Man fühlt, er ist gewohnt im Hofstaat der Ideen sich zu bewegen. Von dorther, von dem Umgang mit Königinnen, die leise Intonation, das zögernde und doch gewichtige Spiel der Hände, der unauffällige, aufmerksame Blick seiner Augen. Und wenn er mir versichert, gemeinhin ein unbequemer Unterredner im Gespräch zu sein – scheu und wild zugleich – so weiß ich: für ihn bedeutet es Gefahr und Opfer zugleich, aus dem gewohnten, einsamen Daseinskreis, jenem Hofstaat, herauszutreten. Er zitiert mir das Wort Chamforts: »Hat jemand ein Meisterwerk zustande gebracht, so haben die Leute nichts Eiligeres zu tun, als ihm das nächste unmöglich zu machen.« Gide hat die Ehren und Würden des Ruhms so kräftig wie sonst keiner von sich abgeschüttelt. »Zwar heißt es«, sagt er, »bei Goethe, nur die Lumpe sind bescheiden, aber doch gab es«, so fährt er fort, »keinen Genius, der bescheidener gewesen wäre als er. Denn was will es heißen, im höchsten Alter noch die Geduld, die Unterordnung über sich gebracht zu haben, sich mit dem Persischen zu befassen. Ja, lesen selber war für diesen Mann, am Abend eines ungeheuren Werktags, schon Bescheidenheit.«
Es ging in Frankreich eine Zeitlang das Gerücht, Gide wolle die Wahlverwandtschaften übersetzen. Und da noch jüngst das Tagebuch seiner »Kongoreise« von der erneuerten Lektüre des Buches spricht, so werfe ich eine Frage danach ins Gespräch. »Nein«, erwidert Gide, »übersetzen ist mir jetzt ferner gerückt. Freilich, immer noch würde Goethe mich anziehen.« Hier ein leichtes für ihn charakteristisches Zögern. »Und gewiß in den Wahlverwandtschaften ist der ganze Goethe. Wenn ich aber jetzt überhaupt etwas übersetzen würde, dann wären es eher Prometheus, Stellen aus der Pandora oder entlegenere Prosaseiten, wie die Schrift über Winckelmann.«
Hier denke ich an Gides jüngst erschienene Übersetzung aus dem Deutschen, ein Kapitel des »Grünen Heinrich« von Gottfried Keller. Was mag den Dichter in dieser Richtung gerufen haben? Mir geht ein Wort von Gides verstorbenem Freunde Jacques Rivière durch den Kopf – das Wort von dem »Zaubergarten des Zögerns«, in welchem Gide auf Lebenszeit verweile. Diesen Garten hat auch Keller, der Dichter der gründlichen Hemmungen und leidenschaftlichen Vorbehalte, bewohnt, und so mag die Begegnung der beiden großen Prosaiker sich ergeben haben.
Aber es kommt nicht dazu, daß ich Gide selber darüber vernehmen könnte. Denn, mit einer plötzlichen Wendung der Unterhaltung: »Ich möchte Ihnen noch einige Worte über die Absicht meines Kommens sagen. Es geschah mit dem Vorhaben, eine conférence in Berlin zu halten. Und ihrer Vorbereitung wollte ich, in aller Ruhe und Zurückgezogenheit, die erste Woche meines Aufenthaltes widmen. Aber es kam ganz anders als ich vermutet hatte. Denn die Liebenswürdigkeit der Berliner, ihr zuvorkommendes Interesse für mich, erwiesen sich als so groß, daß die Muße, mit der ich gerechnet hatte, sich nicht einstellen wollte. Begegnungen und Gespräche füllten meine Zeit aus. Andererseits stand mein Entschluß fest, nicht anders als mit einer sehr durchdachten Rede hier zu erscheinen. Je voulais faire quelque chose de très bien. Und ich würde mich freuen, wenn Sie das bekannt gäben und hinzufügten, daß mein Vorsatz nicht aufgegeben, sondern nur seine Ausführung vertagt ist. Ich werde wiederkommen und werde meine conférence mitbringen. Sie wird vielleicht dann ein ganz anderes Thema haben, als es mir für diesmal vor Augen stand. Nur soviel: ich hatte nicht vor und plane auch ferner nicht, hier über französisches Schrifttum zu sprechen, wie es in letzter Zeit des öfteren geschehen ist. Immer wieder habe ich in Berliner Gesprächen erfahren können, wie gut bei Ihnen alle, die es angeht, darüber unterrichtet sind.
Ich gedachte von etwas ganz anderem zu sprechen. Ich wollte darlegen, was für mich als französischen Autor in Ihrer Literatur das Fruchtbarste, Förderlichste gewesen ist. Sie hätten von mir gehört, welche Rolle Goethe, Fichte, Schopenhauer in Frankreich und besonders für mich gespielt haben. Auch hätte ich die Gelegenheit ergriffen, von dem neuen intensiven Interesse, das deutsche Dinge jetzt bei uns finden, mit Ihnen zu reden. Ich darf, wenn ich den heutigen französischen Literaten gegen den der vorigen Generationen halte, das eine sagen: Er ist wißbegieriger geworden; sein Blickfeld ist im Begriff, sich über die kulturellen und sprachlichen Grenzen der Heimat hinaus zu weiten. Vergleichen Sie mit dieser Haltung das Wort von Barrès: ›Sprachen lernen! Wozu? Um dieselbe Dummheit auf drei oder vier verschiedene Arten zu sagen?‹ Bemerken Sie das Erstaunliche dieser Wendung? Barrès denkt überhaupt nur ans Reden; das Lesen einer fremden Sprache, das Eingehen in eine fremde Literatur zählen für ihn nicht. War es bei Barrès ein vorwiegend nationales Genügen, so war es um die gleiche Zeit bei Mallarmé ein Genügen an der geistigen Innenwelt, das jeden Blick ins Draußen, Reiselust und Sprachenkunde, zu etwas Seltenem machte. Führte nicht vielleicht die Philosophie des deutschen Idealismus ihre französischen Jünger zu dieser Haltung?«
Und Gide erzählt die reizende Anekdote, wie die Hegelsche Lehre durch Villiers de l'Isle-Adam in den Kreis um Mallarmé Eingang gefunden habe. Villiers nämlich kaufte als junger Mann eines Tages an einer Straßenecke eine Düte heißer Kartoffeln; die Düte aber war ein Bogen aus einer Übersetzung von Hegels Ästhetik. So und nicht auf dem offiziellen Weg über die Sorbonne und Victor Cousin soll der deutsche Idealismus zu den Symbolisten gekommen sein.
»Ne jamais profiter de l'élan acquis« – nie vom einmal erreichten Elan Gebrauch machen: das bekennt im »Journal des Faux-Monnayeurs« Gide als einen der Grundsätze seiner literarischen Technik. Aber es ist weit mehr als eine Regel seines Schreibens, es ist der Ausdruck einer Geisteshaltung, die jeder Frage begegnet, als sei sie die erste, die einzige einer Welt, die nur eben erst aus dem Nichts hervorgegangen ist. Und wenn der Dichter als repräsentativste Erscheinung des geistigen Frankreichs eines hoffentlich nahen Tages an deutsche Hörer sich wenden wird, wird er im Sinne solch neuen Beginnens, in einem Geist einsetzen, der nichts den Stimmungen und Konjunkturen der öffentlichen Meinung hüben und drüben dankt. Niemandem mehr als dem, der vor vielen Jahren geschrieben hat: »Wir erkennen nur das Werk als wertvoll an, das im tiefsten eine Offenbarung des Bodens und der Rasse ist, aus der es hervorging«, ist Völkergemeinschaft ein Ding, das nur in höchster, präzisester Ausprägung, freilich auch nur in strengster geistiger Läuterung der nationalen Charaktere sich bildet. Halbdunkel oder Verschwommenheit, wo immer es sei, sind ihm fremd: nicht umsonst hat sich Gide immer wieder als Fanatiker der Zeichnung, des scharfen Konturs bekannt.
In diesem Sinne werden wir ihn, den großen Franzosen, der seiner Physiognomie durch Arbeit, Leidenschaft und Mut die europäische Prägung zu geben vermocht hat, gespannt und freudig in Deutschland zurückerwarten.