Disputation bei Meyerhold
Ohne Zweifel ist Meyerhold Rußlands bedeutendster Regisseur. Aber er ist eine unglückliche Natur. Dazu ist er mit einer neuen Einstudierung des »Revisor« in eine unglückliche Situation geraten. Es stehen ihm nun einige harte Wochen bevor. Eine der letzten literarischen Direktiven der russischen Partei hieß: Eroberung der Klassiker. Die Hauptwerke der russischen Literatur sind dem Prestige des neuen Rußland einerseits, der Bildung seiner Hunderttausenden von neuen Lesern andererseits dienstbar zu machen. An erster Stelle steht hier selbstverständlich deren Auswertung durch das Theater. Es gibt in Rußland aber nur eine verschwindende Anzahl auch für Europa »klassischer« Stücke. Wer eins von ihnen herausgreift, setzt auf eine Karte sehr viel. Als Meyerhold vor einem Jahre »Wald« (Ljess) von Ostrowsky wagte, hat er gewonnen. Dies Jahr hat er mit dem »Revisor« verloren. Sehr bedeutend war auch hier seine Leistung als Regisseur. Aber trotz einer radikalen Umarbeitung hat er das Stück nicht für die proletarische Bühne erobert. Im Gegenteil: man hat in diesem Hause wohl nichts gesehen, was (Kürzungen vorausgesetzt) in den Theaterchen des Kurfürstendamm mit größerer Aussicht auf Erfolg gespielt werden könnte. Auch das Format der Szene war dem angepaßt. Auf der schiefen Ebene eines Mahagoniaufsatzes schiebt ein lebendes Bildchen nach dem anderen sich herein. Selbstverständlich (für Moskau ist das nämlich selbstverständlich) ist das ganze Ameublement materialecht und stilsicher. Jedes kleinste Stückchen des Fundus schreit nach seiner Museumsvitrine. Unerhört der Luxus, den er mit Menschenmaterial sich leistet. Dicht zusammengepfercht steht alles, was auftritt, auf einem Fleckchen. Diese Massierung auf der schiefen Ebene bringt in der Tat den Eindruck zeitgenössischer Stiche hervor. Das alles machte diese Leistung problematisch genug. Durch die Umarbeitung wurde sie es noch mehr. Nicht daß der russische Dramaturg den lähmenden Respekt vor jedem schwarz auf weiß fixierten Dichterwort in den Knochen hätte, der in. Westeuropa noch häufig ist. Was die dramaturgische Leistung zu Fall brachte, ist nicht das Faktum: Umarbeitung, sondern wie sie ausfiel. Sie hat das berühmte Gogolsche Lachen aus dem »Revisor« verjagt. Bobschinsky und Dobschinsky sind nicht komische Figuren, sondern der doppelgesichtige Alb eines bösen Traumes, die Hauptfiguren nicht die Gogolschen Karikaturen sondern Orchester einer verfrühten Gespenstersonate. So oder anders haben Partei und Presse Meyerholds Arbeit verworfen. Um sie zu legitimieren (aber wohl auch, um seine Freunde um sich zu sammeln), beraumte Meyerhold im eigenen Hause eine Disputation ein. Der überraschende Verlauf des Abends war: wenige sprachen gegen den »Revisor«, unter ihnen kein einziger zündend, und dennoch siegten seine Gegner auf der ganzen Linie. Nicht Lunatscharsky, nicht Majakowsky, nicht Belyj konnten ihn retten. Das verdankt Meyerhold seinem unglücklichen Temperament. Spannend war, die Anstalten zu verfolgen, mit denen Freunde einem unrettbar in den aufgewühlten Wogen der Volksstimmung Versinkenden beispringen wollten. Es ging dabei nicht nur um den »Revisor«. Man wollte einen hochnotierten Namen, wie Meyerholds, nicht der Baisse preisgeben. Die Leitung lag in sehr geschickten Händen. Und das Durchschnittsniveau des russischen Redners ist so hoch, daß auch in vierstündiger Debatte im ganzen auf einen schlechten Redner ein guter kommt. Von allen ist Majakowsky der beste. Im richtigen Moment nimmt er das Publikum in die Hand, gibt ihm auf eine Viertelstunde das Schauspiel eines Rowdy-Intelligenzlers, der sich aus Lust am bloßen Streit mit ihm herumschlägt und dabei noch versteht, ganz unverbindlich zu bleiben. In diesem Stil: »Allerdings, die beste Rolle hat er seiner Frau gegeben. Protektionswirtschaft?! – Aber wenn er sie nur geheiratet hat, weil sie eine gute Schauspielerin ist!!« Und meisterhaft vierschrötig nimmt er seinen Platz am grünen Rednertisch wieder ein. – Andrej Belyj, der berühmte Verfasser von »Petersburg« und von »Moskau«. Ihn sollte man in unseren literarhistorischen Seminarien zeigen: der romantische Dekadent in Samtjacket und Binde wie bei Gavarni. Man würde ihn im ganzen heutigen Paris nicht mehr auftreiben. Hier, auf der revolutionärsten Bühne Moskaus, tänzelt er, »der ewige Leser Gogols«, eine verflossene Gavotte. Hände, die 1850 eine Opiumpfeife stopften, breiten sich hier beschwörend vorm Publikum aus. Dann der »Mann aus dem Volke«. Kurze Hosen, Manchesterjoppe, Reitstiefel, Baß. »Wo ist der Gogol für die Arbeiter, der Gogol für Bauern? Es lohnte nicht, ihn für die Bourgeoisie zum zweiten Male zu entdecken.« Gegen zwölf ruft man stürmisch nach Meyerhold. Der Beifall bei seinem Auftreten sagt ihm, daß hier noch viel zu gewinnen ist. Aber in weniger als zehn Minuten hat er jeden Kontakt mit der Masse verloren. Stichwort für die Opposition: »Moskau hat seine gelbe Presse.« Meyerhold deckt »Motive« auf: geheime Konspirationen, Racheakte. Vom Rang her, wo die Jugend, Komsomolzen, sitzen, kommen die ersten Pfiffe: »Dawolno« (genug). Viele stehen auf, viele gehen. Umsonst greift er nach dem roten Dossier und versucht, sachlich zu werden. Ein Viertel des Saales ist leer, als er aufhört. Man schickt ihm, um den schlechten Eindruck zu verwischen, noch ein paar Redner nach. Aber der Kampf ist entschieden. Nun wird der »Streit um den Revisor« den Instanzenweg gehen. Die Journalisten Moskaus haben an die Partei appelliert. Es gibt von nun an eine Front gegen Meyerhold.