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Krisis des Darwinismus?

Zu einem Vortrag von Prof. Edgar Dacqué in der Lessing-Hochschule

Alle Hörer werden verstanden haben, daß es sich nicht nur um biologische Dinge handelte. Dacqués Biologie bricht mit dem Darwinismus. Außerdem aber stellt sie eine Anzahl merkwürdiger Verbindungen mit der Mythologie, der Metaphysik und der philosophischen Anthropologie her. Wenn seine antidarwinistische Position an sich Interesse erregt, so machen diese Integrationsversuche seine Ansichten zeitgemäß.

Will man sie überspitzt in einem Worte zusammenfassen, so müßte man sagen, daß der Mensch eine Keimform ist. Es gibt Keimformen in der Natur, die sich als ausgewachsene, aber nicht umgebildete Embryos darstellen. Der Mensch sei daher im Frühstadium am angemessensten, am »menschlichsten« ausgeformt. Im ausgewachsenen Menschen wage sich Tierisches wieder weiter hervor. Vor allem aber trete das Tierische in der ferneren eigentlichen »Entwicklung« des Keimes »Mensch« auf; als solche nämlich sieht Dacqué die Affen und insbesondere wohl die Menschenaffen an. Und so erklärt er, daß der Embryo des Menschenaffen dem homo sapiens, nicht aber der Embryo des homo sapiens dem Menschenaffen gleiche. Gerade aber weil die Entwicklung des Keimes »Mensch« im kanonischen Falle, nämlich beim homo sapiens gehemmt sei, habe sich dessen Gehirn auf Kosten anderer Organe heraufbilden können.

Im übrigen verweise die vergleichend-anatomische Untersuchung den Menschen seinem primitiven Bau nach in die Formenwelt des Erdaltertums. Man findet eine äußerst primitive fünffingrige Hand, wie sie nur bei sehr alten Säugetieren bekannt ist, Spuren des Stirnauges, ein primitiveres Gebiß als die höheren Säuger es haben und anderes. Der Mensch könnte also sehr alt sein, viel älter, als gewisse Tierformen, die man sich heute, wenn nicht als seine Stammväter, so als deren Verwandte vorstellt. So seien eben z.B. die Affen stammesgeschichtlich viel eher als überspezialisierte Seitenformen des Menschen denn als seine Vorläufer aufzufassen. Seitenformen, die die biologische Klasse »Mensch« sozusagen überstürzt absolviert hätten.

Dacqué erkennt aber die stammesgeschichtliche Betrachtung nur in gewissen Grenzen und durchaus nicht in Gestalt der kurrenten Lehre vom »Stammbaum« des Menschen an. Was den betrifft, so sind, wie er sagt, die Verhältnisse um so undurchsichtiger geworden, je mehr die Menge ausgestorbener Formen unterm Grabscheit wuchs. Man fand zwar eine Anzahl von Lebewesen, in denen die Entwicklung sich zu gabeln schien. Die Analyse aber enttäuschte regelmäßig die stammesgeschichtliche Erwartung. Denn diese Formen waren, wie sich zeigte, samt und sonders schon allzuweit spezialisiert, lagen immer an kurzen, keimlosen Seitenästen des hypothetischen Stammbaums. Wahre Knotenpunkte, sagt Dacqué, hat man überhaupt nicht gefunden. Für die Formen aber, die zuerst als solche erschienen, stellt er die folgende frappante Theorie auf.

Wir haben alle gelernt, daß der Walfisch zwar aussieht wie ein Fisch, in Wirklichkeit ist er aber ein Säuger. Solche Fälle hat man bisher als Ausnahmen angesehen. Dacqué will darauf hinaus, sie seien zu gewissen Zeiten und in gewissem Sinne die Regel, zumindest aber außerordentlich häufig gewesen. Er sprach von Stilen der Natur, von Stilverwandtschaft, die mit Stammverwandtschaft gar nichts zu tun habe und die man, um seine Meinung drastischer zu machen, geradezu als Moden bezeichnen könnte. So kennt er Flügel-, Schnabel-, Panzer-, Krallenmoden, Perioden, in denen gewisse dieser Gestaltungselemente in Tieren der allerverschiedensten, stammesgeschichtlich einander völlig fernstehenden Gruppen auftreten. Auf diese Weise aber entstehen Übergangsgeschöpfe, Zwischenwesen, »Versuchstiere«, die man zunächst für stammesgeschichtlich bedingt hielt. Nach Dacqué handelt es sich hier um Bildungsnotwendigkeiten, die dem Abstammungsverhältnis transzendent sind und gerade die Tiergruppen, bei denen sie besonders grotesk und äußerlich auftreten, zum Aussterben verurteilen. An einen Stammbaum glaubt der Vortragende nicht. Man hat immer wieder nur stammesgeschichtliche Verwandtschaft innerhalb gewisser Gruppen gefunden. Er scheint der Ansicht zuzuneigen, die Natur verfahre sprunghaft, setze nach einer Reihe von Versuchen mit bestimmten Tierformen plötzlich irgendwo anders mit höheren, d.h. feiner organisierten, angepaßteren Gestaltungen äußerlich ähnlicher Art ein, ohne daß zwischen den ersteren und letzteren ein Abstammungsverhältnis bestehe. Er findet keinen Stammbaum, nur eine Fülle von Stammgesträuchen.

Eines also unter denen wäre der Mensch. Der Mensch, dessen reine, entelechetische Form bisher noch überhaupt nicht zum Vorschein gekommen sei, der sozusagen mit dem großen Vorbehalt im Tierreich steht, weitgehender Spezialisierung sich zu verweigern, der, um mit S. Friedlaender zu reden (was Dacqué nicht tut), eine uralte »schöpferische Indifferenz« im Tierreich bezeichnet, eine rotierende Achse, die das eigentlich Tierische nach allen Seiten hin aus- und abschleudert, um zu ihrer reinen Gestalt sich hindurchzubilden. Diese noch unverwirklichte Urgestalt will der Vortragende doch im bisherigen Menschen symbolisch angelegt finden. Die Betrachtungsweise mündet, soweit sich das erkennen ließ, in eine Anschauung vom Menschen als Urphänomen einer Tierreihe – oder des Tierreichs? – aus.

Der Laie kann nicht versuchen, diese Ausführungen zu kritisieren. Gewiß wird er oft genug stutzen, der Einwand, daß wir Menschenspuren bisher ja nur in tertiären Schichten begegnen, wird nicht der einzige sein, der auf der Hand liegt. Wohl aber darf der Nichtbiologe so gut wie der Fachmann versuchen, von dem unterirdischen Kräftezusammenhang, der diese Gedankenketten aufwirft, sich Rechenschaft zu geben. »Integration« – wir nannten das Wort vorhin. Aber diese Integration der Gebiete, die die Schranken des Fachwissens und des Fachdenkens niederreißt, und auf Einheit und Kontinuität der Anschauung drängt, steht doch in striktem Gegensatz zur überkommenen Form solcher Einheit: dem System. Wenn nämlich dieses jene Einheit, jene Kontinuität auch im Objekte zu finden beansprucht, so frappiert an den dargestellten Gedankengängen, wie eng sie sich mit der Arbeit anderer großer zeitgenössischer Forscher gerade in der Durchbrechung überkommener Systemträume berühren. Husserl setzt an die Stelle der idealistischen Systeme die diskontinuierliche Phänomenologie, Einstein an Stelle des unendlichen, kontinuierlichen Weltraums den endlichen diskontinuierlichen, Dacqué an die Stelle eines unendlichen, strömenden Werdens ein immer erneutes Einsetzen des Lebens in begrenzten, zählbaren Formen. Diese höchst aktuellen Zusammenhänge würden der offenen Auseinandersetzung des offiziellen Darwinismus mit dem Manne, der ihm vor einem ausverkauften Saale den Fehdehandschuh hinwarf, das allgemeinste Interesse sichern.