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Ein merkwürdiges Lehrbuch des Deutschen

Von dem folgenden Dokument,1 das zu den schrulligsten der Pädagogik gehören muß, wird sich schwer sagen lassen, ob es je eine Rolle im regulären Unterricht gespielt hat. Daß es im Selbstverlage des Verfassers erschien, der doch als »Königl. Bayerischer Dekan der Diözese, Hauptprediger der Stadt und erster Distriktsschulinspektor des Landgerichts Rothenburg«, an sich einen anderen leicht hätte finden müssen, deutet darauf, daß man die praktische Brauchbarkeit dieses Buches schon vor 120 Jahren richtig eingeschätzt hat. Wir wollen es wenigstens hoffen. Hat nicht der Physikus des »Woyzeck« in seinem Verfasser einen Zwillingsbruder bekommen? Gäbe es nicht Büchner'sche Szenen, diese Deutschlehre im Unterricht an Kindern erprobt zu denken? Einen Magister darüber wachen zu sehen, daß auch kein R in die Erzählung des Schülers sich einschleiche, das Lämmchen der Bertuch'schen Fabel als Steckenpferd durch die vierzig Wochen des Schuljahrs einen pädagogischen Don Quichote tragen, den Lehrer vor versammelter Klasse haarscharf angeben zu sehen, wie man die falsche Interpunktion zu betonen habe (und wehe, wenn einer es richtig machte!), Lob und Tadel, Angenehmes und Unangenehmes einzelner Gegenstände abwägen, Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten aufsuchen und endlich auf der Basis der folgenden Thesen – sie sind dem Kapitel 14 entnommen, in dem die Hauptbegriffe der Fabel erst »unrichtig« und dann »richtig« erklärt werden – »Naturhistorische Unterhaltungen« der sprachlosen Kinder inszenieren zu sehen?

»Lämmchen: Ein Lämmchen ist ein altes großes Thier, mit Flügeln, zwey Füßen und Fühlhörnern versehen. Es lebt von der Luft, stellt dem Wolf nach und zehrt ihn auf, wenn es ihn erhascht. Es geht immer sehr bedächtlich einher, und besitzt viel Muth. Seiner körperlichen Stärke wegen wird es zum Lasttragen und Ziehen gebraucht. Auf seinem Felle trägt es Schuppen, die es von Zeit zu Zeit abwirft, und die der Nagelschmid als Köpfe auf die Nägel leimt.«

»Herz: Das Herz ist ein harter viereckichter Theil im Unterleibe des menschlichen Körpers, der sich von außen fühlen läßt. Wenn man zu viel gegessen hat, schwillt es auf, und verursacht Drücken. Der Wundarzt kann im Falle der Noth ganze Stücke daraus schneiden, ohne Nachtheil für die Gesundheit des Patienten.«

»Schnee: Der Schnee ist ein Mineral, das sich, jedoch nur im Sommer, im Erdboden findet, von Bergknappen zu Tag gefördert und durch Hämmer verarbeitet wird. Je näher er dem Ofen kommt, desto härter wird er, und brennt, der Flamme nahe gebracht, lichterloh. In Spanien und Portugal werden Schnallen und Knöpfe daraus fabriciert.«

»Die unrichtigen Angaben, schließt Muck, kann man auf ähnliche Art auch nur mündlich erzählen.« – Heute wird man sehr leicht geneigt sein, in dem Verfasser so einer Schrift weniger einen Pedanten als einen Geisteskranken zu vermuten. Wahrscheinlich mit Unrecht. Mehr als man glaubt, würde sich bei einer zeitkritischen Betrachtung des Falles erhellen. Um sie in einer Formel vorwegzunehmen: Ein später Rationalist, den die inzwischen hereingebrochene Romantik um seinen gesunden Menschenverstand gebracht hat. Aber was ist das anderes, als jener Büchnersche Physikus im Gewand eines Schulmeisters?



  1. Kunstgriffe oder Anweisung, wie Väter, Erzieher und Lehrer einen Aufsatz auf funfzigerley verschiedene Weise zweckmäßig zu Sprach- und Verstandesübungen benützen können von Friedrich Johann Albrecht Muck. Rothenburg im Rezatkreise, 1810. – Gedachter »Aufsatz« ist die Bertuch'sche Fabel »Das Lämmchen«.

    Ein junges Lämmchen, weiß wie Schnee,
    Ging einst mit auf die Weide;
    Mutwillig sprang es in den Klee,
    Mit ausgelass'ner Freude. usw.

    »Wie man – erklärt der Verfasser in einer Vorrede – einen einzigen, zweckmäßig gewählten deutschen Aufsatz auf möglichst verschiedene Weise zu Verstandes- und Sprachübungen benützen könne, ohne großen Aufwand von Kraft und Zeit? – hierauf mußte ich als Pfarrer zu Markt-Ippesheim besonders studieren, indem mir neben meinem Amte, und neben der täglichen Unterweisung der Schulcandidaten, auch noch der Unterricht mehrerer Zöglinge, meiner Kinder und einiger hoffnungsvollen Mädchen obgelegen ist. Das Resultat meiner Versuche enthalten diese Kunstgriffe.« Hier einiges aus dem Inhaltsverzeichnis: 1. Das Metrum richtig angegeben, aber beym Dictiren in jedem Verse eine Sylbe zu viel oder zu wenig. 2. Mit durchaus falscher Interpunction. 3. Mit orthographischen Fehlern. 4. Mit falschen Reimworten. 12. Erzählung dieser Fabel ohne R. 42. Fehlerhafte Perioden. 45. Paradoxe Fragen und Sätze, usw. usw.