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Granowski erzählt

Es steht etwas auf dem Spiel, wenn ein Unternehmen mit achtzehn Waggons sich auf die Reise begibt. Nach mehr als neunjährigem Bestehen, vielen Gastspielreisen kreuz und quer durch ganz Rußland, hat nun Granowskis Theater seine erste internationale Tournee angetreten. Von Berlin geht es nach Frankfurt, dann nach Paris, weiter nach London oder Skandinavien, nach Amerika und dazwischen wieder hierher zurück. Denn hier soll das ganze Repertoire dieser Bühne sich zeigen. Und dazu reichen vier Wochen nicht aus, so klein es auch ist. Mit seinen zehn Stücken wird es sogar das kleinste auf allen Bühnen Europas sein, welche zählen. Warum das ist, weswegen das den Stolz des Leiters ausmacht, werde ich am Ende unserer Unterhaltung mir selbst beantworten können. Denn ich nehme die ganze Geschichte dieser Bühne, eines bitteren Ringens und eines erstaunlichen Sieges, nach Hause. Und als Draufgabe die Bestätigung einer alten Wahrheit: der Meistbeschäftigte hat die meiste Zeit. Zwei Stunden lang sah ich ihn, als Quartiermeister einer ganzen Armee von Anliegen, Besuche, Telephongespräche, Korrespondenzen so unterbringen, daß jedem sein Recht wurde, keines am andern sich stieß. Vielleicht, daß alle Leidenschaften dieses Mannes restlos in seinem Werke aufgehen. Oder woher nun sonst die Gelassenheit seiner Geste, die wohltuende Ironie seiner Stimme auch kommen mag, es ist eine bestrickende Vorstellung, daß der Abdruck dieser schlichten, anonymen Person im Material seiner Bühne jene Welt pathetischer und exzentrischer Gruppen ergab, die an die Grenze von dem rührt, was Sinne erfassen, Nerven ertragen können. Es geht auch heute von ihm die gewinnende Ruhe aus, die vor anderthalb Jahren in seiner Moskauer Wohnung mich festhielt. Doch hatte ich damals von seinen Inszenierungen noch nichts gesehen, und sein Interesse für die ersten Moskauer Impressionen des Gastes mag präziser gewesen sein, als meines für ein jiddisches Theater, das mir damals nur ein vager Begriff war. Danach geriet auch unsere Unterhaltung, als wir an der langen weißgedeckten Tafel vor dem Samowar, den Schüsseln mit Äpfeln und Kuchen saßen.

Was ich damals versäumte, verspreche ich mir durch verdoppelte Gewandtheit heut nachzuholen. Eine Bühne wie Granowskis, sage ich mir, ist nur aus dem geschichtlichen Zusammenhang des jiddischen Theaters überhaupt verständlich. Nichts angemessener, als Herrn Granowski nach seiner Stellung zum älteren jiddischen Theater, seinem Aufstieg in dessen Schule zu fragen. Gesagt, getan. Granowski: »Ich habe nie ein jiddisches Theater gesehen.« Ich: »Sie haben also zuerst an einer russischen Bühne gespielt?« Granowski: »Ich bin nie Schauspieler gewesen.« – So ist es: wie aufgeschlossen, vorurteilslos man meint, in solche Unterredung einzutreten, so ungeschickt fällt man denn doch mit schnellfertigen Phantasien, voreiligen Hypothesen zur Türe herein. Ich sehe, es ist besser, Granowski erzählen zu lassen.

»Mein Ensemble ist aus einer Schauspielschule hervorgegangen. Im Jahre 1919 forderte Grimberg, ein Kommissar unter Lunatscharski, mich auf, eine Schule für jiddische Schauspieler zu eröffnen. So bin ich an das Jiddische herangekommen. Nicht programmatisch, auch nicht als Akteur, sondern von Anfang an als Lehrer und Regisseur. Die Truppe, die sich bildete, hat natürlich nicht damals schon den scharf umrissenen Charakter gehabt, den sie heute besitzt. Vor allem hat sie ihr Gebiet: das satirisch-groteske Volksstück sozusagen in sich selbst erst entdecken müssen. Das erste Drama, das bei uns gegeben wurde, lag davon so weit ab wie nur möglich. Und dennoch war es keine Willkür, kein Zufall, und es handelte sich dabei um die gleichen gestaltenden Grundsätze, die es auch heute bestimmen. Es waren »Die Blinden« von Maeterlinck. Hier glaubte ich Wesen und Aufgabe meiner Regie am sinnfälligsten entwickeln zu können. Nämlich: Bewegung aus der Ruhe hervorgehen zu lassen, Ruhe, die statuarische Position, als das ursprünglich Gegebene anzusetzen, sie aber mit allen Energien so zu laden, daß jeder musikalische Umschlag der Stimmung das Höchstmaß ausdrucksvoller Bewegung aus ihr herausfahren läßt. Und das gleiche gilt für das Wort; denn was im mimischen Zusammenhange die Ruhe ist, ist im sprachlichen Zusammenhange das Schweigen. Wenn mich also an diesem Einakter etwas anzog, so war es sein Reichtum an statuarischen Momenten. Aber das Publikum, das natürlich von alledem nichts begriff und nichts wissen konnte, war fassungslos, gerade dieses Drama von einer jiddischen Truppe zu sehen und blieb, noch auf lange hinaus, ablehnend.«

Oft hat Granowski in den ersten Jahren vor zwei oder drei Zuschauern gespielt, und auch diese haben gepfiffen. Später, als das Theater sein gültiges Genre, seine Form längst gefunden hatte, war noch immer jede Premiere für die Parteigänger und Gegner die Gelegenheit, sich erbitterte Schlachten zu liefern. Die Presse hat in ihren maßgebenden Organen Granowski erst dann gestützt, als mit dem großen Erfolge der »Hexe« – dem ersten Stück, das es auf eine ununterbrochene Folge von 100 Aufführungen gebracht hat –, sein Sieg erklärt war. Das war der äußere Wendepunkt in der Geschichte dieser Bühne. Der innere aber lag um Jahre zurück. Es war die Aufführung der »Agenten« von Scholem Aleichem. Aus den Figurinen dieser Komödie haben sich unter Granowskis Händen im Laufe der Zeit alle die Typen herausgebildet, die heut das unwiderstehliche Geisterheer dieser Szene bilden. Hier erst wurde Granowski entscheidend deutlich, daß, wie er selbst es ausdrückt, nur auf dem Umweg über das Negative – über Satire und Groteske – zu den gültigen, lebendigen Formen der jiddischen Bühne sich vordringen ließ, will sagen, den einzigen, die vermögend sind, einer Masse sich einzuprägen und eine Masse sich zu gewinnen.

In neueren Debatten über Theater spielt das »Dynamische« bekanntlich eine große Rolle. Grund genug, den Begriff mit Vorsicht zu handhaben. Das scheint auch Granowskis Meinung zu sein. Jedenfalls tritt das skeptische, verschleiernde Lächeln, das immer in seinen Zügen auf der Lauer liegt, deutlicher heraus, als er in Erwiderung auf eine Frage bemerkt: »Und wo ist denn das russische Theater dynamisch? Ist es Ihnen so vorgekommen? Meyerhold ist doch etwas ganz anderes; will zumindest, wenn Sie ihn fragen, nicht menschliche Dynamik, sondern das kommende, im Rhythmus der Maschinen bewegte und handelnde Kollektivum. Und kann denn überhaupt der Slawe das Dynamische sich zum eigentlichen Element machen? Sein nächster Ausdruck ist das Zögern, das Hinziehen, das Schwellenlassen und das Verebben, nicht das Explosive, Unabsehbare, Jähe.« Wenn er mit diesen Worten gegen Meyerhold sich abzugrenzen scheint, so kommt ihm darum nicht weniger die Frage, die sich an dieser Stelle mir aufdrängt, bedenklich und schwierig vor. »Worin sehen Sie nun, Herr Granowski, was allen maßgebenden russischen Bühnen gemeinsam ist, und worin scheinen sie Ihnen spezifisch verschieden?« Es ist keine diplomatische Ausflucht, wenn der Gefragte mir mit dem Hinweis auf die innige Symbiose antwortet, in der die führenden. Moskauer Theater – Meyerholds, Tairoffs, Stanislawskis, sein eigenes – miteinander leben, sondern es ist der Ausdruck vom Leben und Reichtum einer Epoche, der die tägliche Arbeit und der öffentliche Anteil viel zu viel neue, bezwingende Gedanken zutragen, als daß von diesen Instituten irgendeines sich in der Abwandlung einer erschöpfenden Formel genugtun könnte.

Würde man aber Granowski ein letztes Wort zu alledem abdringen wollen, um zu erfahren, worin er die Spannkraft seiner Arbeit und die Dauer seines Werkes verbürgt sieht, so würde er sein pädagogisches Wirken an die entscheidende Stelle rücken: Dies Ensemble, das in fast zehnjähriger Arbeit geschaffen wurde, in Jahren aber, deren Arbeitstag 18 bis 20 Stunden hatte. Und es ist wohl nicht das allein; sind es doch auch die blutgetränkten, schrecklichen Jahre des russischen Umsturzes und des Wiederaufbaus, in die die starken Wurzeln dieser Pflanzschule hinabreichen. »Meine Schauspieler«, sagt Granowski, und sagt es zu ihrer Ehre, »würden an keinem anderen Theater ankommen. Sie müßten denn erst zwei Jahre lernen (oder verlernen). Zwischen uns bedarf es, um das ganze Gesicht eines Auftritts zu ändern, oft nur eines Winks, den ein Dritter vielleicht gar nicht bemerken würde. Käme heute ein anderer Regisseur, meine Schauspieler würden ihn nicht verstehen. Mich verstehen sie und wissen sich auch durch mich verstanden. In unserem Ensemble haben wir jeden einzelnen unter die Lupe genommen, haben ihn durch und durch studiert. Jede seiner Rollen ist eine Funktion seiner Stellung im Kollektiv, und beruht auf einer gemeinsamen Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Stück.« (Daß dieses Stück den gegebenen Text nur als Schema, als Libretto behandelt, teilt Granowskis Theater mit allen führenden Bühnen Rußlands.) »Weil dem so ist, haben wir keine Emploi-Schauspieler. Darum können, ja müssen wir auch auf Stars verzichten. Darum sind wir aber auch nicht sklavisch an ein mehr oder weniger ›Talent‹ im einzelnen Schauspieler gebunden, können uns gestatten, neben der ursprünglichen Begabung die unbedingte Gewalt in Anschlag zu bringen, die das Ensemble auf den Einzelnen übt. Ich glaube, die durchschnittliche Begabung meiner Schauspieler ist geringer als die eines ersten Berliner Saison-Ensembles. Aber der Einzelne ist bei uns Mensch, ehe er Schauspieler ist. Wir ziehen ihn mit all seinen Kräften, nach seinem ganzen Wesen in unsere Arbeit hinein. Darum ist auch der Eintritt eines ›Neuen‹ ein so großes Ereignis.«

Daß diese außerordentliche Epoche, eines der reichsten Jahrzehnte in der Geschichte des Theaters, keinen ebenbürtigen Kritiker, ja nach seiner Meinung kaum einen begabten gefunden hat, das ist nach Granowskis Überzeugung der tiefste Schatten im gegenwärtigen russischen Theaterleben. Von den großen Rezensenten des zaristischen Rußland lebt der eine im Irrenhaus, der andere ist zu alt, um den heutigen Kämpfen folgen zu können. Deren Bild wird für die Nachwelt verloren sein. »Es sei denn«, wende ich ein, »daß wir von dem und jenem der Führer später einmal Memoiren erwarten dürfen.« Und über dieser Aussicht nehmen wir lächelnd Abschied.