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Karl Kraus liest Offenbach

Karl Kraus liest Offenbach. Statt der Orchestermusik läßt er einen Klavierauszug spielen, statt des französischen Textes hat er die Übersetzung von Treumann vor sich, statt eines Korps kostümierter Akteure stellt er sich selber im Straßenanzug. Und von sich selber nur Kopf und Arme und Rumpf. Das andere verschwindet hinter dem Tischchen, dessen Decke wie bei dem »stummen Diener«, vor dem die Zauberer manipulieren, auf den Boden herabreicht. Was er so grenzenlos entblößt von allen Mitteln, so ganz und gar sich selbst und nichts als sich der Sache widmend darstellt, ist unvergeßlich, und nie wiederkehrend in höherem Sinne als vor sechzig Jahren die Uraufführung im Théâtre du Palais-Royal es sein konnte. Nicht, daß hier einer der beseeltesten Sprecher die Stimme, einer der unermüdlichsten Geber die Hand, einer der mutigsten Menschenbändiger den Blick an Offenbachs Werk gewandt hat, bringt das Wunder dieses Abends zustande, sondern der Mann, der sein Lebenswerk, die ganze Folge der »Fackel«, Pandämonium und Paradies, deren Völker sich paaren, in den Reigen der Offenbachschen Gestalten entbietet, der beglückt sich auftut und um sie schließt.

Was auf dem Podium vorgeht, steht also völlig jenseits der verbohrten Alternative von produktiver und reproduktiver Leistung, die nur die mehr oder weniger eitlen oder servilen Manöver der Virtuosen betrifft. Kraus ist als Vortragender so wenig »Virtuose« wie als Autor ein »Sprachbeherrscher«. Er bleibt in beiden Fällen identisch: der Interpret, der den Schurken ertappt, indem er zwischen zwei roten Umschlagseiten – wie oft nicht wortlos – ihn nachdruckt, der ein Werk wie Offenbachs feenhaft ausstattet, indem er es spricht. Aber er spricht ja in Wahrheit nicht Offenbach; er spricht aus ihm heraus. Und dann und wann nur fällt ein atemraubender, halb stumpfer, halb glänzender Kupplerblick in die Masse vor ihm, lädt sie zu der verwünschten Hochzeit mit den Larven, in denen sie sich selber nicht erkennt, und nimmt auch hier sich das schreckliche Vorrecht des Dämons: Zweideutigkeit.

Offenbachs Werk erlebt eine Todeskrisis. Es zieht sich zusammen, entledigt sich alles Überflüssigen, geht durch den gefährlichen Raum dieses Daseins hindurch, und kommt, gerettet, wirklicher als vordem, wieder zum Vorschein. Denn wo diese wetterwendische Stimme laut wird, fahren die Blitze der Lichtreklamen und der Donner der Métro durch das Paris der Omnibusse und Gasflammen. Und das Werk gibt ihm dies alles zurück. Denn auf Augenblicke verwandelt es sich in einen Vorhang, und mit den wilden Gebärden des Marktschreiers, die den ganzen Vortrag begleiten, reißt Karl Kraus diesen Vorhang beiseite und gibt den Blick in sein und unser aller Schreckenskabinett mit einmal frei, auf Schober und Bekessy und auf die Mitte, wo er für diesen Abend, dieser Stadt zu Ehren, auf einem hohen Podium Alfred Kerr zeigt.

Hier sprengt er von Rechts wegen, vorbedacht, seinen Abend, stellt anarchisch in eine Atempause die kurze Ansprache ein, die den eben verklungenen Refrain: »Ich bring aus jeder Stadt den Schuft heraus« für Berlin exemplifiziert. Und damit betrifft er den Hörer nicht anders als mit den Texten selbst, nämlich immer unerwartet, immer zerstörend, einschlagend in die vorbereitete »Stimmung«, an nie betroffenen Stellen unberechenbar ihn packend. Darin ist er einzig und allein dem Puppenspieler vergleichbar. Bei ihm, nicht im Habitus des Operettenstars, liegt der Ursprung seiner Mimik und seiner Geste. Denn die Seele der Marionetten ist in seine Hände gefahren.

Keine unter Offenbachs Operetten ist so sehr Operette wie das »Pariser Leben«, nichts im »Pariser Leben« ist so sehr Paris wie die Transparenz dieses unsinnigen Nachtlebens, durch welches nicht zwar die logischen, aber die moralischen Ordnungen deutlich hindurchscheinen. Freilich erscheinen sie hier nicht richtend; sie tun es als Einspruch und Ausflucht, als List und Begütigung, mit einem Worte: als Musik. Musik als Platzhalterin der moralischen Ordnung? Musik als Polizei einer Freudenwelt? Ja, das ist das Geheimnis des Glanzes der über die alten Pariser Tanzböden, über die »Grande Chaumière«, den »Bal Mabille«, die »Closerie des Lilas« mit dem Vortrag dieser Operette sich ausgießt. »Und die unnachahmliche Doppelzüngigkeit dieser Musik, alles zugleich mit dem positiven und dem negativen Vorzeichen zu sagen, das Idyll an die Parodie, den Spott an die Lyrik zu verraten; die Fülle zu allem erbötiger, Schmerz und Lust verbindender Tonfiguren – hier erscheint diese Gabe am reichsten und reinsten entfaltet.« Die Anarchie als einzig moralische, einzig menschenwürdige Weltverfassung wird zur wahren Musik dieser Operette. Die Stimme von Karl Kraus sagt diese innere Musik mehr als daß sie sie singt. Schneidend umpfeift sie die Grate des schwindelnden Blödsinns, erschütternd hallt sie aus dem Abgrund des Absurden wider und summt, wie der Wind im Kamin, in den Zeilen des Frascata ein Requiem auf die Generation unserer Großväter.