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Gespräch mit Ernst Schoen

»So wie in einem Gedicht von Laforgue, einer Szene bei Proust, einem Bild von Rousseau recht wohl ein Pianino stehen könnte, so paßt in Aragons oder Cocteaus Dichtung, in ein Gemälde von Beckmann oder besser Chirico die zottige Figur des Lautsprechers, das Geschwür des Kopfhörerpaares um die Ohren mit den pendelnden Eingeweiden der Leitungsschnur.« Das ist scharf gesehen und evident. Es stammt aus einem »Anbruch«-Artikel »Musikalische Unterhaltung durch Rundfunk«. Verfasser Ernst Schoen. Und damit tritt zur Evidenz die Überraschung: so treffend, so kultiviert und unverbildet zugleich spricht hier der Leiter eines Senders vom Instrument. Einen solchen Mann über seine Pläne und Ziele zu hören, schien mir um so mehr Interesse zu haben, als dieser Sender der Frankfurter ist, der seinen europäischen Ruf schon besaß, ehe sein früherer Programmleiter Flesch durch die Berufung nach Berlin die Aufmerksamkeit auf Frankfurt lenkte und seinen Mitarbeiter als Nachfolger zurückließ.

»Eine Sache historisch verstehen«, so beginnt Schoen, »heißt, sie als Reaktion, als Auseinandersetzung begreifen. So muß auch unser Frankfurter Unternehmen aus einem Ungenügen, und zwar aus einer Opposition gegen das erfaßt werden, was ursprünglich die Programmgestaltung des Rundfunks bestimmte. Das war, kurz gesagt, die Kultur mit einem haushohen K. Man glaubte im Rundfunk das Instrument eines riesenhaften Volksbildungsbetriebs in der Hand zu halten. Vortragszyklen, Unterrichtskurse, großaufgezogene didaktische Veranstaltungen aller Art setzten ein und endeten mit einem Fiasko. Denn was zeigte sich? Der Hörer will Unterhaltung. Und da hatte der Rundfunk nichts zu bieten: der Trockenheit und fachlichen Beschränktheit des belehrenden entsprachen Dürftigkeit und Tiefstand des ›bunten‹ Teils. Hier galt es einzusetzen. Was bisher als Vereinsunternehmen ›Schlummerrolle‹ oder ›fröhliches Weekend‹, eine Arabeske am seriösen Programm gewesen war, mußte aus der muffigen Atmosphäre des Amüsements in die gut durchlüftete, lockere und witzige Aktualität gehoben und zu einem Gefüge werden, in dem das Mannigfaltigste auf gute Art sich zueinander finden konnte.« Schoen gab die Losung aus: »Jedem Hörer was er haben will und noch ein bißchen mehr (nämlich von dem, was wir wollen).« Man sah aber in Frankfurt sogleich: dies zu bewirken ist heute nur möglich mit einer Politisierung, die ohne den chimärischen Ehrgeiz staatsbürgerlicher Erziehung den Zeitcharakter so bestimmt, wie ehemals der »Chat Noir« und die »Elf Scharfrichter« es getan haben.

Der erste Schritt war vorgezeichnet. Es galt anschließend an den Status quo des großstädtischen Kabaretts zu einer Auslese der Qualitäten, wie sie in solcher Strenge allein dem Rundfunk möglich ist, zu gelangen und zugleich den Vorsprung zu nutzen, den gerade hier der Rundfunk vorm Kabarett hat: vor dem Mikrophon Künstler zu kombinieren, die sich im Räume eines Kabaretts nicht leicht zusammenfinden. Und anschließend bemerkt Schoen: »Viel wichtiger als die zur Zeit etwas forcierte Suche nach dem literarischen Hörspiel mit seiner fragwürdigen Hörkulisse ist mir, die besten Methoden ausfindig zu machen, mit denen jedes Werk, das aufs Wort gestellt ist, vom lyrischen Drama bis zum Versuchsstück, in werdenden Formen übertragen zu werden vermag. Ganz anders steht es natürlich um jene unliterarischen, stofflich und sachlich bestimmten Hörspiele, mit denen gerade Frankfurt den Anfang gemacht hat. Hier wird man von den Erfahrungen der Kriminal- und Scheidungsaffären, die mit so viel Erfolg gegeben wurden, ausgehend, zunächst eine Folge von Mustern und Gegenmustern der Verhandlungstechnik – ›Wie nehme ich meinen Chef?‹ u. ä. – geben.« Es ist Schoen gelungen, gerade für diese Seite seiner Tätigkeit das Interesse von Bert Brecht zu gewinnen, der ihm hier zur Seite stehen wird.

Schoen denkt im übrigen nicht daran, die technischen Errungenschaften, wie deren jeder Monat im Rundfunk bringt, mit süffisanter Miene zum »Kulturgut« zu schlagen. Nein, er bewahrt ihnen gegenüber kühlen Kopf und ist sich zum Beispiel ganz darüber im klaren, daß die Vergrößerung seines Arbeitsgebietes wie das Fernsehen sie darstellt, auch neue Schwierigkeiten, Probleme, Gefahren naherückt. Für den Augenblick freilich hat der Rundfunk es nicht mit dem Fernsehen in vollem Umfang zu tun. Aber gerade was den zunächst in Frage kommenden Ausschnitt, den Bildfunk, betrifft (dessen Einrichtung von der Reichsrundfunk- Gesellschaft abhängt), leuchtet uns ein, daß seine künstlerischen Verwendungsmöglichkeiten, wie Ernst Schoen sagt, um so vielfältiger sein werden, je mehr es gelingen wird, ihn von bloßer Reportage zu emanzipieren, mit ihm zu spielen.

Sind es meine vorwiegend literarischen Interessen oder ist es nicht vielmehr die Zurückhaltung meines Partners – Ernst Schoen ist von Hause aus Musiker und ein Schüler des Franzosen Varèse –, die das Gespräch bisher von musikalischen Dingen fernhielten? Einer Frage nach dem Baden-Badener Musikfest, das bekanntlich zwei Tage der Musik für den Rundfunk gewidmet hatte, wird er nicht ganz ausweichen können. Nicht ohne Überraschung aber bemerke ich: er ist auch hier nicht aufs ästhetische Gebiet zu verführen. Er bleibt bei der Technik. Und führt ungefähr Folgendes aus: Die Techniker stehen auf dem Standpunkt: Es ist überhaupt keine besondere Musik für den Rundfunk nötig. Er ist entwickelt genug, um jede Musik vollendet zu übertragen. Demgegenüber Schoen: »Gewiß, in der Theorie. Aber das setzt vollkommene Sender und vollkommene Empfänger voraus, die es in der Praxis nicht gibt. Und das bestimmt die Aufgabe der Rundfunkmusik: Sie hat auf bestimmte Wirkungsminderungen Rücksicht zu nehmen, die heute noch mit jeder Übertragung verbunden sind. Darüber hinaus – hiermit stellt sich Schoen an Scherchens Seite – gibt es für eine besondere etwa ästhetisch neu fundierte Rundfunkmusik noch keinen Anhalt. Baden-Baden hat das bestätigt. Die Rangfolge des Wertes fiel bei dem, was man dort vortrug, mit der der Radioeignung zusammen. In beiden Hinsichten standen Brecht-Weill-Hindemiths ›Lindberghflug‹ und Eislers Kantate ›Tempo der Zeit‹ voran.«

»Das Radio«, bemerkt Ernst Schoen abschließend, »ist an einem bestimmten, verhältnismäßig willkürlichen Punkte seiner Entwicklung aus der Stille des Laboratoriums herausgerissen und zu einer öffentlichen Angelegenheit gemacht worden. Seine Entwicklung ging vorher langsam, sie geht jetzt nicht schneller. Würde ein Teil der Energien, die einem oft allzu intensiven Sendebetrieb dienen, auch heute den Versuchsarbeiten zugewandt, so würde der Rundfunk dadurch gefördert werden.«