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Gespräch mit Anne May Wong

Eine Chinoiserie aus dem alten Westen

May Wong – der Name klingt farbig gerändert, markig und leicht wie die winzigen Stäbchen es sind, die in einer Schale Tee sich zu mondvollen duftlosen Blüten entfalten. Meine Fragen waren das laue Bad, in dem die Schicksale, die er verschloß, ein weniges von sich preisgeben sollten. Wir bildeten, in diesem gastlichen Berliner Haus, eine kleine Gesellschaft, die um den niedrigen Tisch sich versammelt hatte, diesem Vorgang zu folgen. Aber wie es im Ju-Kia-Li heißt: »Unnützes Geplauder über die Angelegenheiten der Leute vereitelt wichtiges Beraten.« Erst kam einmal eine Weile lang nichts, und wir hatten Zeit, uns voneinander ein Bild zu machen: die menschen-erfahrene, lenkende Bewohnerin dieser Zimmer, die uns die letzten Stunden vor ihrer Abreise hatte schenken wollen (»Man begegnet einem Menschen, man bittet um einen Dienst; ist er einem gefällig, so wird man sein Freund«), der Romancier, der nachher May Wong gefragt hat, ob sie ihre Rollen vor einem Spiegel einübt, der Zeichner, der May Wong von links und die amerikanische Journalistin, die sie von rechts gezeichnet hat und Annes Schwester, die sie in Europa begleitet. Die beiden sind ganz allein von Amerika herübergekommen, und als sie auf dem Hamburger Bahnhof standen, blieb ihnen nichts übrig, als aufzuhorchen, in welcher der vielen Gruppen das Wort »Berlin« fiel und der zu folgen. So verlassen waren sie noch. Inzwischen ist das Gegenteil ihre Sorge geworden. May Wong steht, wie man weiß, im Mittelpunkt des großen Films, der jetzt unter Eichbergs Regie gedreht wird. Über diesen Film erfahren wir natürlich nur wenig. »Aber die Rolle«, sagt sie, »ist vollendet, ist Meine Rolle wie noch keine bisher.« Vollmoeller hat sie eigens für sie geschrieben. Und weil dem so ist, wird es viel Leid und Mißgeschick geben, denn sie liebt die traurigen Szenen. Ihr Weinen ist unter den Kollegen berühmt. Man fährt nach Neubabelsberg heraus, um es zu sehen. Nun errate ich schon, daß ihr ungetrübtes, heiteres Sichgeben nicht trügt, und daß, je inniger ihre Vorliebe für das Traurige, desto ausgeglichener und heiterer ihr Alltag ist. Ihre Schwester kann es bestätigen. Diesem braven, gesunden Mädchen, das bei allem Charme so ernst und kameradschaftlich blickt, als hätte ihr das Leben schon mehr als ein Geständnis gemacht, merkt man vom Filmstar nichts an.

»Ein volles Antlitz wie Frühlingswind,
Rundlich und friedlich gestimmt«

wie es im fünften Hauptstück des Dschung-Kuei heißt. Darum liebt sie es, ihre traurigen Szenen in reifen, gewichtigen Rollen zu haben. »Ich will nicht immer flappers spielen. Am liebsten Mütter. Schon einmal, mit fünfzehn Jahren, spielte ich eine Mutter. Warum nicht? Es gibt so viele Mütter, die jung sind.« Sie wird, so sage ich mir, von selber und desto lieber auf das kommen, was wir von ihr erfahren wollen, je geschickter ich abzulenken verstehe. »Studieren« – wie es so schön im »Götz« heißt, als sie Konversation machen wollen – »Studieren jetzt viele Deutsche von Adel zu Bologna?« Oder: »Lieben die Chinesen den Film? Gibt es chinesische Regisseure? Filmt man in China?« Gewiß filmt man. Natürlich lieben sie ihn. Gibt es irgendein Volk auf der Erde, das dem Film, in Liebe oder Angst, sich entziehen könnte? Nur haben sie in China leider zu spät begonnen, zumindest wenn man dem Eindruck von dem traut, was kürzlich als »erster chinesischer Film« in Paris gezeigt wurde. Die »Rose von Pu-Chui« ist eine Arbeit, in der die skrupellosesten amerikanischen Regiemethoden sich an jener unendlich subtilen Materie vergangen haben, die die mongolische Mimik für den Film darstellt. Nur ein Dilettant könnte wagen, das Unverwechselbare dieser Mimik und worin sie der Filmdarstellung entgegenkommt, in ein paar Schlagworten unterzubringen. Immerhin – mag es nun die Verhaltenheit, die Geschwindigkeit, der schnelle Umschlag ins Lächeln, die jähere Veränderung im Schrecken sein – in Europa ist das Auftreten des japanischen Schauspielers Sessue Hayakawa noch heute, nach zehn Jahren, nicht vergessen. Sein Spiel hat Schule gemacht. Desto befremdlicher ist, wie lange es dauerte, bis in Amerika die Chinesin zum Filmen zugelassen wurde oder sich entschloß. May Wong kann sich ihr Dasein ohne den Film nicht mehr denken, und als ich frage: »Nach welchem Ausdrucksmittel würden Sie greifen, wenn Ihnen nicht der Film zur Verfügung wäre?«, ist ihre einzige Antwort »touch wood«, und die ganze Runde hämmert lustig auf unser Tischlein. – Aus Frage und Antwort macht sich May Wong eine Schaukel: sie legt sich zurück und taucht auf, versinkt, taucht auf, und ich komme mir vor, als gäbe ich ihr von Zeit zu Zeit einen Stoß. Sie lacht, das ist alles. Ihr Kleid würde sich gar nicht schlecht zu solchem Gartenspiel eignen: dunkelblaues Kostüm, hellblaue Bluse, gelbe Kravatte darüber – man möchte einen chinesischen Vers dafür wissen. Diese Kleidung hat sie immer getragen, denn sie ist ja nicht in China sondern in Chinatown von Los Angeles geboren. Wenn aber ihre Rollen es mit sich bringen, nimmt sie alte nationale Trachten gern an. Ihre Phantasie arbeitet freier darinnen. Ihr Lieblingskleid ist aus der Hochzeitsjacke ihres Vaters geschnitten, und das trägt sie auch bisweilen im Hause. Damit sind wir denn zurück von »Bologna« und wieder in Hollywood. Als ihr zum erstenmal der Vorschlag gemacht wurde zu filmen, kam es ihr komisch vor, sie glaubte nicht recht daran. Natürlich war, was ihr zufiel, nur eine kleine Statistenrolle. Aber wir stellen uns die fieberhafte Erregung vor, mit der sie bei der Erstaufführung sich auf der Leinwand suchte und die grenzenlose Enttäuschung, als es vergeblich war. Sie hatte sich beim Spiel solche Mühe gegeben. Denn von früh auf hat der Film sie interessiert. Sie erinnert sich noch heute an das erste Mal, da sie ein Kino betrat. Wegen einer Epidemie war schulfrei. Von dem Taschengeld kaufte sie ein Billett. Kaum war sie wieder zu Hause, so probte sie vor dem Spiegel alles, was sie gesehen hatte. Denn, so sagt es die Geschichte von den zwei Basen im Kapitel vom Abzug des Kranichs und der Rückkehr der Schwalbe: »Die Laufbahn in der Welt ist eine Sache, der man frühzeitig seine Gedanken zuwenden muß.« Lange blieb sie dem Spiegel treu. Einmal kam die Mutter dazu: ihre Leidenschaft wurde entdeckt, und es endete nicht ohne Schelten. Jetzt gebraucht sie längst keinen Spiegel mehr. Keinen gläsernen Spiegel und auch den papiernen Zerrspiegel nicht, den ihr die öffentliche Meinung entgegenhält. Freundliche und unfreundliche Kritiken sagen ihr wenig. »Denn«, diese chinesische Sentenz stammt von ihr selber, »die Wahrheit hört man, wenn sie bitter ist, nur von Feinden. Ich möchte auch die bittere Wahrheit von Freunden hören.« »Haben Sie Vorbilder, Lehrer?« »Nein. Es gibt Schauspielerinnen, die ich bewundere, Pauline Frederik zum Beispiel. Aber das einzige Mal, daß ich eine Geste einer anderen absah, geschah das, nach der allgemeinen Überzeugung von Hollywood, an der dümmsten, unbegabtesten Schauspielerin, die wir da hatten.« Wir sind längst ins andere Zimmer hinübergewechselt. May Wong hat ihre liegende Lage schnell wiedergefunden. Sie scheint sich hier wohl zu fühlen, löst ihr langes Haar und frisiert es zu den »im Wasser sich tummelnden Drachen« (streicht's in die Stirn). Genau in deren Mitte schneidet es mit einer Schwingung ein wenig tiefer ein und macht ihr das herzförmigste aller Gesichter. Alles was Herz ist scheint sich in dessen Augen zu spiegeln. Ich weiß, ich werde sie wiedersehen, in einem Film, der dem Gewebe unserer Zwiesprache ähnlich sein möge, von der ich mit dem Verfasser des Ju-Kia-Li sage:

»Das Gewebe war göttlich angelegt,
Aber das Gesicht war noch feiner.«