Unbewußte Analogie
Das Verhältnis der Schriftsprache zur lebendigen Sprache oder das Verhältnis der Grammatik zur Sprachentwicklung ergibt sich aus dem Eifer der Sprachgelehrten, aus Überlegung, also mit vollem Bewußtsein dasselbe zu tun, was die sprechende Menschheit seit jeher unbewußt getan hat. Man könnte nicht nur die Lehren unglücklicher Sprachreiniger, sondern sogar vielfach die Wissenschaft verständiger Grammatiker als eine Übertreibung, als eine Parodie auf das unbewußte Walten der Analogie betrachten. Und wir werden geneigt sein, in ein erlösendes Gelächter auszubrechen, wenn wir erkannt haben, dass alle die Gleichmäßigkeiten, welche die Sprachentwicklung allmählich aus Gründen der Nachlässigkeit und Bequemlichkeit in Stoff und Form der Sprache hineingetragen hat, nachträglich die Grundlage geworden sind für die sogenannte Logik, und dass nun diese auf der unbewußten Analogie beruhende Logik wieder zu den Forderungen der bewußten Analogie geführt hat. Die Griechen und Römer, die von einer unbewußten Geistestätigkeit noch nichts ahnten, mußten freilich vor Freude aus dem Häuschen geraten, als sie in der Sprache überhaupt Analogien entdeckten; so ist es ihnen weiter nicht übel zu nehmen, dass sie sich aus ihnen eine Logik konstruierten, wie die ersten Beobachtungen von Gleichmäßigkeiten in der Natur anstatt zu unbewußten Naturgesetzen zu der Aufstellung von bewußten Gottheiten führten.
Wir aber, die wir in den Naturgesetzen überall nur eine neue Mythologie erkennen, wir werden auch mißtrauisch sein selbst gegen die Gesetze, welche aus unbewußten Analogiebildungen der Sprache hervorgehen. Dass der Einfluß unbewußter Analogie die ganze Sprachentwicklung beherrscht, ja dass wir den Einfluß der Analogie bis in die unzugänglichen Urzeiten der Sprache zurück annehmen müssen, das ist gewiß. Wieder aber müssen wir uns davor hüten, Gleichmäßigkeiten darum für Gesetze zu erklären, weil jeder dieser Vorgänge für sich genommen bis ins Kleinste hinein psychologisch oder selbst mechanisch notwendig ist. Ich wiederhole das Bild von den Wagenspuren der Straße. Wenn eine Reihe von Wagen in näheren oder weiteren Abständen hintereinander über eine frisch geschotterte Straße fährt, so wird der zweite Wagen mit psychologischer, das heißt von Kutscher und Pferden ausgeübter, und ebenso mit mechanischer Notwendigkeit ungefähr in die Spur des ersten Wagens einlenken, der dritte noch genauer in die Spur des zweiten Wagens usw.; je tiefer, breiter und bequemer die Spur geworden ist, desto notwendiger wird für die Wagen ein analoges Fahren werden. Nicht leicht aber wird ein Philosoph unter den Fuhrleuten diese Analogie ein Naturgesetz nennen. Es wird immer unruhige Pferde, betrunkene Kutscher und zufällige Steine geben, welche die Analogie aufheben.
Wenn wir bedenken, dass es hoch entwickelte Sprachen gibt, welche heute noch gewisse formale Analogiebildungen wie unsere verschiedenen Redeteile nicht kennen, dass ein Wort im Chinesischen zugleich die Funktion des Verbums, des Nomens und des Adjektivs haben kann, so werden wir um so leichter begreifen, dass diejenigen analogischen Gruppen, welche uns als die grammatischen Formen so geläufig sind, in den Uranfängen der Sprache gar nicht bekannt oder auch gar nicht vorhanden waren. Aus solchen formalen Analogiebildungen ist die Trennung der Redeteile, in den einzelnen Redeteilen die weitere Gruppenbildung hervorgegangen. Das Verbum teilte sich nach Zeiten, nach Personen, nach Ein-und Mehrzahl, das Substantiv teilte sich in Gruppen nach Ein- und Mehrzahl und später nach den Kasusformen, das Adjektiv schuf sich analoge Gruppen nach der Steigerung. Wir können gar nicht abmessen und unter dem Banne unserer Sprachgewohnheit uns auch beinahe nicht vorstellen, wie viel der Zufall bei diesen scheinbar so philosophischen Kategorien der Sprache mitgewirkt hat. Ich will nur ein einziges Beispiel anführen, das ich allerdings wieder nur als eine phantastische Möglichkeit gebe. Ich denke mir also, dass zu irgendeiner frühen Zeit der indoeuropäischen Sprachen, als sie noch nicht feste Formen der Deklination und Komparation besaßen, aber schon in Redeteilen auseinander gingen, dass damals durch eine zufällige Geistesrichtung die Komparation der Adjektive und die Zahlbezeichnung der Substantive ganz wohl hätte zusammenfallen können. Es ist doch unzweifelhaft eine Analogie vorhanden zwischen dem Positiv, dem Komparativ und dem Superlativ einerseits, dem Singular, dem Dual und dem Plural anderseits. Ein einzelner Mensch kann groß sein, nur unter zwei Menschen kann einer größer sein, nur unter einer Mehrzahl von Menschen kann einer der größte sein. Ich phantasiere also, dass damals eine Analogiebildung, welche Singular und Positiv, Dual und Komparativ, Plural und Superlativ, und dann dieses Ganze wieder in eine besondere grammatische Kategorie zusammenfaßte, recht wohl möglich gewesen wäre. Wir haben in unserer Grammatik allgemein bekannte Analogiebildungen, welche nicht zwingender sind. Die Funktionen der Frage oder der Bedingungspartikel umfassen analogisch größere Gegensätze, als der zwischen Steigerung der Adjektive und Zahlbezeichnung der Substantive ist. Wäre meine Phantasie Wirklichkeit, so würde sie jedem selbstverständlich scheinen.
Dass aber in alten Zeiten die Begriffe noch weniger analogisch gebildet wurden als heute, das sieht man aus einer Menge gerade der gebräuchlichsten Worte. Und es ist kein Zufall, dass gerade die gebräuchlichsten Worte in vielen Sprachen den alten Zustand erhalten haben. Sie waren den redenden Menschen immer zu geläufig, um sich der Analogie zu fügen. Man achte auf das Hilfszeitwort sein. Der Infinitiv lautet "sein", der Indikativ der Gegenwart "ich bin", das Imperfektum "ich war". Diese Worte werden so oft gebraucht, selbst schon von kleinen Kindern, dass die Analogiebildung ich seie und ich seinte oder ähnlich niemals festen Fuß fassen konnte. Man halte dagegen ein Verbum, das selten gebraucht wird, wie z. B. pflücken. Es hat vielleicht kein einziger von uns sämtliche Formen, die nach dem grammatischen Paradigma von "pflücken" abgeleitet werden können, also alle Formen von "ich pflücke" angefangen bis "ich würde gepflückt gehabt haben" schon gebraucht. Kommen wir aber im Zusammenhang der Rede dazu, irgend eine noch niemals von uns gebrauchte Ableitungsform von pflücken anzuwenden, so steht uns fast unbewußt das Paradigma zu Gebote, das heißt wir bilden das Wort nach Analogie anderer Zeitwörter, insbesondere nach der Analogie der schwachen transitiven Verben. Es scheint mir ganz einleuchtend, dass von den Uranfängen der Sprache an solche Analogiebildungen wirksam waren. Ein vollständiges Wörterbuch müßte auch alle Neubildungen von jedem Verbum mitenthalten. Wir stehen aber so unbedingt unter dem Banne der Analogie, dass wir "pflücke, pflückte, gepflückt" gar nicht als selbständige Worte empfinden, was sie doch ebenso gut sind wie die abgeleiteten Substantive und Adjektive, dass wir sie vielmehr als gelegentliche Lautveränderungen eines sogenannten Stammwortes empfinden. "Sein — bin — war" sind offenbar ursprünglich ganz verschiedene Worte gewesen; wir empfinden aber auch sie als Ableitungen, weil uns die Analogie nicht losläßt. Ebenso steht es um die Komparation von "gut" in "besser". Vielleicht könnte man es dahin auch rechnen, wenn wir im Deutschen das Wort Geschwister haben und damit auch mehrere Brüder bezeichnen können.