"radeln"
Wir können uns mit den Gewohnheiten unserer Sprache in eine Zeit gar nicht mehr zurückdenken, deren Sprachmaterial ohne jede Analogie aus lauter selbständigen Begriffen und Formen bestand. Oder vielmehr, wir erhalten bestenfalls die Vorstellung von den Tierstimmen auf einem großen Bauernhofe; wenn da die Pferde wiehern, die Ochsen brüllen, die Ziegen meckern, die Hunde bellen, die Katzen miauen, die Hähne krähen, die Hühner gackern und die Gänse schnattern, so ist dieses Durcheinander vielleicht nicht nur ein Bild von der uranfänglichen, noch nicht analogischen Sprache, es ist vielleicht dieser Zustand selbst. Zwischen der Sprache des Hahns und der Henne gibt es etwas wie Analogie, also auch eine Verständigung; der Hahn kräht nur, wenn er etwas spezifisch Männliches ausdrücken will; mit den Kücken spricht er in Tönen, die den Tönen der Henne analog sind. Zwischen den Sprachen von Pferd und Gans aber ist keine Analogie, also auch kein Verständnis. Höchstens die Jammerrufe äußersten Schmerzes scheinen unter verschiedenen Tieren etwas Analoges zu haben und darum Verständnis zu wecken. Wir können uns die Anfänge der Sprache nicht armselig genug ausdenken. Wir wissen jetzt, dass den späteren Reichtum zwei Geistestätigkeiten erzeugt haben: die metaphorische und die analogische Anwendung der vorhandenen Sprachlaute. Es läßt sich hinzufügen, dass jede neu vollzogene Metapher den Stoff der Sprache durch eine Art von Kunstschöpfung bereicherte, zu deren Verständnis zuerst selbst eine künstlerische Geistestätigkeit des Hörers notwendig war. Die Bereicherung durch Analogie bedarf weit weniger dieser künstlerischen Geistesrichtung. Durch die Analogie wird der Sprachschatz eben fabrikmäßig vermehrt. Und wenn ich behaupte, dass die zahlreichen Bildungsformen jedes einzelnen Substantivs oder Verbums im Augenblicke der Anwendung jedesmal neu geschaffen werden, so meine ich damit ein mechanisches Schaffen nach der Schablone; wohl haben wir alle möglichen Deklinations- und Konjugationsformen eines Worts im Gedächtnis bereit liegen, aber nicht als eine Erinnerung an diese Einzelformen, sondern nur als Erinnerung ihrer Analogien. Wir haben es alle mit erlebt, wie zum ersten- mal das Fahren auf dem Zweirad mit dem neu gebildeten Worte "radeln" bezeichnet wurde. Die Bildung selbst erfolgte analogisch, aber doch wieder rein zufällig. Denn für das Laufen auf Schlittschuhen hat sich z. B. das Wort schlittern — weil es nämlich schon eine anders nuancierte Bedeutung hatte — nicht eingeführt. Wer aber das Wort radeln zum erstenmal so verstand, dass er es nachzusprechen bereit war, der zögerte auch nicht einen Augenblick, davon die noch nicht gehörten oder gesprochenen Konjugationsformen zuverlässig zu bilden, wie etwa vom Verbum tadeln. Es entstand sofort eine Analogiegruppe, trotzdem radeln ganz gewiß nicht nach der Analogie von tadeln gebildet worden war. Aber jeder sagte und verstand auf der Stelle z. B. "du radelst".
Für das Wesen der Analogie scheint es mir wichtig, darauf hinzuweisen, dass solche Bildungssilben niemals auf den rein formalen Wert ihrer Buchstaben herabgesunken sein können. Man sollte den Unterschied wohl beachten. Sicherlich hat unsere Buchstabenschrift sich aus uralter Bilderschrift entwickelt. Wenn aber der Buchstabe S sich — ich wähle zur Erläuterung ein ideales Beispiel — so entwickelt hat, dass zuerst das Bild der Schlange an eine Schlange erinnerte, dann dasselbe Zeichen außer der Schlange auch ihren Anfangslaut malte, bis dass nach langer Entwicklung die Schlangenlinie einfach den Laut S in Erinnerung brachte, so vollzog sich allmählich ein Bruch im Gedankengang. Der Laut S hat mit dem Begriff Schlange nicht das allermindeste mehr zu tun. Und selbst in den seltenen Fällen, wo man aus der heutigen Form des Buchstabens noch irgendwie eine Erinnerung an die alte Bilderschrift wachrufen kann, ist diese Ähnlichkeit nur noch eine Kuriosität, aber keine Verbindung mehr. Die Verbindung ist zerbrochen. Anders in den hörbaren Sprachlauten als Bildungselementen. Wenn das S als Suffix bei einem Zeitwort die zweite Person der Einzahl bezeichnet, so ist die Identität des Lauts mit der Bezeichnung für die zweite Person unserem Sprachgefühl zwar nicht mehr gegenwärtig, aber es hat in der Sprachentwicklung niemals einen Bruch gegeben und von der alten Zeit, wo das S bewußt die zweite Person aussprach, bis zum heutigen Tage haben die Menschen in leisen Übergängen des Lautwandels immer so die zweite Person gebildet. Wir sehen daraus vielleicht, dass es nicht angeht, den Vorgang der analogischen Anwendung der Sprachformen einfach mathematisch durch Proportionen zu erklären, wie Hermann Paul das getan hat. Nach ihm wird die Unbekannte gesucht, z. B. die zweite Person Singularis vom Indikativ des neuen Verbums radeln. Gemeint ist (Prinzip, d. Sprachg. S. 97) etwa die Gleichung:
tadeln: du tadelst = radeln: X.
Daraus soll hervorgehen X = du radelst. In den seltensten Fällen nur mag eine solche Besinnung möglich und notwendig sein. Der Vorgang im Menschengehirn ist viel einfacher. Die Bildungssilbe ist uns in ihrer Bedeutung genau so geläufig wie das Wort Apfel in seiner Bedeutung, und das Wesen der Analogie scheint mir nur darin zu bestehen, dass solche Bildungssilben in Millionen Fällen unaufhörlich gebraucht werden und dass die entwickelte Sprache mit einer verhältnismäßig kleinen Zahl solcher Bildungselemente für die Millionen Fälle bequem auskommt. Ich wiederhole: eigentlich wird durch Hinzufügung jedes Bildungselements ein neuer komplizierter Begriff gebildet. "Tadelst" ist ebenso ein selbständiges Wort wie "Mandelbaum". Unsere Kinder sind gewohnt, den Baum, auf welchem die Kirsche wächst, Kirschbaum zu nennen usw. Einen Mandelbaum haben sie wahrscheinlich noch nie gesehen. Sagt man ihnen aber, dass die Mandel eine ähnliche Baumfrucht ist, so bilden sie analog von selber und richtig den Begriff Mandelbaum als selbständiges Wort. Ob solche Neubildungen richtig oder falsch sind, das ist ganz gleichgültig für das Wesen der Sprache. Wenn jemand glaubt, die Tomate oder die Kartoffel wachse auf einem Baum, so bildet er ebenso richtig die Analogie: Tomatenbaum, Kartoffelbaum. Die Analogie ist richtig, nur die Vorstellung ist falsch. Von hier aus werden wir zu der Unterscheidung geführt zwischen solchen Fehlern im Wortgebrauch, die nur dem Sprachgebrauch widersprechen, und solchen Fehlern, die den Sinneseindrücken widersprechen, auf welche jede Sprache doch zurückgehen soll.