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Alte Analogien

Es kann allerdings nicht zweifelhaft sein, dass die Sprache durch Analogiebildungen wächst, in Analogien eigentlich mehr als durch Analogien. Die Untersuchung dieser Analogien ist aber besonders dadurch erschwert, weil das Wort selbst etwas ganz Verschiedenes bedeutet, je nachdem wir die Analogie als den inneren Vorgang oder als sein äußeres Ergebnis betrachten. Wir sind es nur nicht gewohnt, überall diese Unterscheidung zu machen. Unsere wissenschaftliche Sprache ist noch zu sehr an die Oberflächlichkeit der Umgangssprache gebunden. Und doch ist offenbar z. B. die Elektrizität als Energie, deren Wesen wir eben suchen, etwas anderes als die Elektrizität als die Erscheinung, die wir beschreiben können; es ist die Vererbung als das Geheimnis der Natur, das wir ergründen möchten, etwas anderes als die Vererbung, die wir beobachten. Wie immer: wir geben einer Beobachtung sofort einen Namen, nachdem wir sie tappend halbwegs festgestellt haben; wir haben für ihr Wesen, das wir ergründen sollen, nur denselben Namen; nur darum beruhigen wir uns so leicht bei dem Worte.

Wäre die Analogie, die doch offenbar zunächst eine Stütze für unser Gedächtnis bildet — und Sprache ist ja eben das Gedächtnis unserer Sinneseindrücke — mit klarem Bewußtsein den Zwecken der Mitteilung dienstbar gemacht, könnten wir uns die sogenannten Regeln einer Sprache, das heißt die Sammlung ihrer Analogiebildungen, durch Gesetz oder Verabredung entstanden denken, so wäre die Analogie für die Sprache nicht mehr als Spalier und Bast, womit das üppig wuchernde wilde Gezweig gezwungen wird, die Wand gleichmäßig zu überziehen. Aber wir müssen festhalten, dass die Regeln, die wir nachträglich bemerken, nur Niederschläge der Analogie sind, ohne deren Mitwirkung die Sprache gar nicht entstanden wäre. Die Stütze des Gedächtnisses ist nicht durch Gesetz oder Verabredung hinzugetreten. Um im Bilde fortzufahren: Die Analogien sind wie die Tatzen des wilden Weins, der der Selbstkletterer heißt, weil er förmliche Hände mit Saugapparaten aussendet und sich mit ihnen selbst an der Mauer anklammert. Die organischen Gesetze, die wir verhältnismäßig zufällig nennen müssen, entscheiden dann im einzelnen über den Weg, den die Ranken nehmen. Aber auch die Stützen selbst sind organisch, wie die Analogie in der Sprache. Jede neue Analogiebildung war zunächst falsch, ein falsches Sprechen, falsch wie wenn ein Kind mit falscher Analogie sagt: "ich habe getrinkt"; jede solche falsche Analogie kann zum Sprachgebrauch und damit zum Gesetz werden, wenn der Hörer sie vernommen, angenommen und zurückgegeben hat.

Die Analogie als Stütze des Gedächtnisses mag die Sprache von ihren ersten Anfängen begleitet haben. Es ist aber protzenhaft, vom sicheren Standpunkte unserer reichgegliederten, komfortablen Sprachen aus gedacht, wenn man sich das Verhältnis der Analogie zur Sprache in irgend einer Urzeit so ausschlaggebend vorstellt, wie es heute ist. Gewiß, nur durch die Analogiebildungen ist unser Sprechen so übersichtlich und so leicht erlernbar, wie wir es kennen. Wenn die Formsilben der Deklination und Konjugation, wenn die Formen der Neubildungen nicht analogisch von statten gingen, welcher Mensch könnte sich in den Tausenden von Worten und in den Hunderttausenden von Wortformen (die alle nur dank der Analogie nicht als selbständige Worte empfunden werden) noch zurecht finden? Es ist aber unausdenkbar, dass auch in irgend einer Urzeit die Sprachen so übersichtlich, ihre Erlernung so leicht war. Außerordentliche Übung mochte da im engsten Kreise allein durchhelfen; so kennt ein Dorfkind Weg und Steg seiner Gemarkung, bevor es die Begriffe Berg, Bach, Straße usw. oder gar den Begriff Geographie versteht. Was heute bei der furchtbar konservierenden Macht der analogischen, schriftlich fixierten, weite Völker umfassenden Sprachen für eine Ausnahme gilt, das mag in einer Urzeit, als die Sprachen noch nicht fixiert waren, nur einen Stamm umfaßten und sich erst analogisch komfortabel zu machen begannen, der regelmäßige Vorgang gewesen sein. Heute erleben wir es selten, dass eine falsche Analogie (z. B. "gewunken" nach "getrunken" usw.) sich anschickt, Regel zu werden; dass nach Analogie gebräuchlicher Worte neue Worte mit ,,-keit" oder ,,-heit" gebildet werden; dass mit echter oder falscher Lautsymbolik das "i" in "spitz", aber auch in "niedlich", "lieb" usw. für eine Metapher des Kleinen angesehen wird; wie ein Kind oder eine geniale Schauspielerin wohl einmal sagt "wiwiwinzig"; dass Ähnlichkeit des Klanges oder Anlauts einen entstehenden Bedeutungswandel unterstützt, wie wenn im Englischen to want (bedürfen) den Sinn von to wish (wollen) erhält, was genau dem Wandel des Chinesischen yaó zu der Bedeutung von yuén entsprechen soll; heute erlebt nur der aufmerksame Linguist solche Wirkungen der Analogie. Die alten Analogien haben das ganze Gebiet der Sprache mit einem so dichten Netze überzogen oder vielmehr sie haben es so durcheinanderwuchern lassen, dass für neue Analogien wenig Raum und Luft mehr vorhanden ist. Denken wir uns aber in eine Zeit zurück, in welcher — ich möchte sagen — die Erfindung der Analogie noch jung war, in welcher die Menschen noch nicht daran gewöhnt waren, dass man ungefähr gleiche Beziehungen durch gleiche Deklinations-, Konjugations- und Kompositionsformen, dass man gar ungefähr gleiche Gefühle durch gleiche Satzbildungen äußern könne, ja dann haben wir eine Anwendung der Analogie vor unserem geistigen Auge, gegen deren Üppigkeit das, was jetzt als grammatische Regel etwa vorhanden ist, ärmlich und pedantisch erscheinen muß. Auch von dieser wilden Analogie haben wir vielleicht noch Beispiele in einigen fernen Sprachen. Das Tibetische besitzt einen Instrumentalkasus, der verbalen Sinn hat. Auch unsere Kultursprachen können noch solche Erinnerungen festhalten. Im Italienischen ist die Verbalendung (nach Analogie von vogliono z. B.) an das Pronomen gefügt in eglino, elleno; in deutschen Mundarten kann die Verbalendung gar an die Präposition gefügt werden, z. B. obst hergehst zu mir; wannst wiederkommst. Es sind das Rudimente alter Bildungen, prähistorische Reste einer noch jungen, starken Analogie.

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