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Mikroskopie der Sprache

Doch nicht allein die rohe Schulgrammatik weiß nichts von dem wirklichen Leben der Sprache, welches ja nur im unendlich Kleinen zu finden wäre, sondern auch die intimere Sprachforschung quält sich immer wieder mit unzulänglichen schematischen Abbildungen. So wie die farbigen genauen Abbildungen eines Auges in einem anatomischen Atlas von heute ungleich mehr enthalten als etwa die Holzschnitte in den Prinzipien des Descartes, aber am Ende doch nur tote Präparate bieten, am Ende doch nur Illustrationen sind zu der Grenze menschlicher Instrumente, so sind die gegenwärtigen Studien über die Mundarten unserer Hauptsprachen ungleich feiner als die alten Grammatiken, aber bis zur Beobachtung des Sprachlebens dringen sie nirgends vor. Der aufnehmbaren Masse sowohl wie der Kleinheit des Beobachtungsmaterials ist eine Grenze gesetzt. Das menschliche Hirn arbeitet oft noch viel präziser als ein Mikroskop, aber es ist und bleibt ein unvollkommenes menschliches Instrument.

So wie mundartliche Studien heute betrieben werden, kommt die Erkenntnis, dass es in der Natur nur Individualsprachen gebe, noch nicht zur Anwendung. Hunderte von kleinen Forschern sammeln Eigenheiten der Abstraktionen, die sie Mundarten nennen. Schwebend und ungenau wird die Mundart irgendeiner Landschaft herausgeschnitten und bewußt oder unbewußt oft übersehen, dass einerseits die Grenzen zu den Nachbarmundarten fließend sind, dass anderseits innerhalb des behandelten Gebiets die minimalsten Abstufungen von Ort zu Ort, von Haus zu Haus, von Mensch zu Mensch zu beobachten wären. Und an solchen sublimierten Abstraktionen üben dann andere kleine Forscher ihre vergleichenden Künste, wie mittelalterliche Realisten, welche eine Klassifikation der Natur auf die Beschreibungen des Aristoteles aufbauen wollten.