Dichtersprache
Dieselbe Grobheit der Beobachtung verrät sich auch in der Verwertung der Mundarten, wie sie in der neueren realistischen Literatur immer allgemeiner wird. Fritz Reuter kultiviert die Mundart seiner Vaterstadt. Seitdem geht diese Sprache als Mecklenburger Plattdeutsch und ist doch eigentlich nur die Sprache Fritz Reuters. Andere plattdeutsche Dichter kommen nach dem Gebrauche ihrer Vaterstadt zu anderen Mundarten und darum zu einer anderen Schreibart. Immer häufiger geschieht es, dass auf dem Titelblatt die Mundart anstatt nach einer Landschaft nur nach einer Stadt genannt wird. Noch genauer wäre es, wenn der Dichter auf das Titelblatt setzte, er habe in der Mundart seiner eigenen Familie geschrieben, ganz genau nur "in meiner eigenen Sprache". Und dieser Zusatz wieder wäre überflüssig, denn in seiner eigenen Sprache sollte jeder Dichter schreiben. Der junge Goethe hat's getan.
Die grobe Behandlung der Mundarten in ihrer literarischen Verwendung ist nun aber ein notwendiges Übel. Es fällt von da ein Licht auf das Verhältnis zwischen Individualsprache und Gemeinsprache. Sicherlich ist die Gemeinsprache nur. ein abstrakter Begriff, sicherlich ist nur die Individualsprache wirklich. Würden aber die Individualsprachen innerhalb einer Familie, eines Orts, einer Landschaft, eines Volkes nicht sehr nahe aneinander grenzen, so wäre der einzig mögliche Gebrauch der Sprache nicht möglich. Wir stehen vor einer Erscheinung, die ich Antinomie nennen könnte, wenn ich gelehrt tun wollte. Einerseits ist die Sprache nur Individualsprache; anderseits ist die Sprache nur etwas "zwischen den Menschen", also zum mindesten etwas zwischen zwei Individuen. Es ist jedoch nur ein scheinbarer Gegensatz. Wir haben da jedesmal bei dem Wort Sprache eine andere Vorstellung. Zwei Individuen verständigen sich miteinander, weil die Sprachgewohnheiten eines jeden von ihnen denen des anderen ähnlich sehen. Die Sprache des Dichters nun ist eigentlich der Keim aller Gemeinsprache; es ist eine Individualsprache, die nicht nur den Nachbarindividuen, sondern möglichst vielen Volksgenossen da und dort verständlich sein soll. Der Zweck heiligt da die Mittel. Durch Brutalität der Behandlung, durch Rücksichtslosigkeit gegen die intimen Formen wird die Verständlichkeit für die Masse erzeugt; Armut ist es, was die Dichtersprache zur Gemeinsprache macht. Durch persönlichen Reichtum wiederum wird die Gemeinsprache zur Dichtersprache.