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Grammatik

Die unbewußte Erlernung unserer Muttersprache besteht in der eingeübten Gewohnheit, alle diejenigen Analogien zu gebrauchen, welche sich in dieser Sprache unbewußt entwickelt haben. Grammatik ist dazu nicht notwendig. Nicht die Grammatik schafft eine Volkssprache, vielmehr ist es die Volkssprache, die Gleichmäßigkeiten schafft, welche man nachher Grammatik nennt. Aber auch bei der Erlernung einer fremden Sprache ist es nur ein Irrweg unserer Gelehrtenschulen und der unter ihrem Einfluß stehenden Lehrer, wenn der Grammatik ein so großer Raum gegönnt wird. Was wir die grammatischen Regeln einer fremden Sprache nennen, sind nur die ihr eigenen Analogien; nur durch Einüben dieser Analogien (neben dem Einüben des fremden Sprachstoffs) kann die fremde Sprache gelernt werden. Und nur die Anfänger, die die Regeln vor der Anwendung auswendig lernen müssen, sind in den ersten Stunden so unglücklich, ihre Sätze nach Hermann Pauls Proportionslehre ausrechnen zu müssen. Der Schweizer, der aus dem deutschen Kanton in den französischen geht, um Französisch zu lernen, lernt die fremde Sprache schneller und besser ohne Grammatik. Freilich aber wird er sich des Unterschieds zwischen den französischen und den deutschen Analogien nicht bewußt werden und vielleicht dadurch zu zahlreichen Germanismen oder Gallicismen verführt werden. Das scheint mir aber das gleichgültigste Ding von der Welt zu sein. Und wenn sich daraus irgendwo eine neue Mundart entwickeln sollte, — ja sind denn die Sprachen überhaupt anders entstanden, als durch Analogien, welche anfangs Fehler waren?

Der hohe Reiz grammatischer Studien besteht aber eben darin, dass auch eine ganz ungelehrte, wenn nur aufmerksame Vergleichung der grammatischen Regeln im Deutschen und im Französischen z. B. sofort erkennen läßt, wie die Analogien in der einen und in der anderen Sprache sich im kleinen und im großen verschieden entwickelt haben; auch ohne vergleichende Sprachforschung kann da der erste Blick lehren, dass die Sprachentwicklung nicht das Werk der Logik ist, dass es eine philosophische Grammatik nicht gibt, dass es eine ebenso wilde Chimäre ist, einen Stammbaum aller menschlichen Sprachen zu suchen, wie wohl auch einen logischen Stammbaum des Tierreichs aus den zufällig gewordenen Geschöpfen herzustellen.