Mikroskopische Untersuchungen
Was so in der literarischen Anwendung ein notwendiges Übel ist, das ist in der Wissenschaft ein Übel ohne Not, ein Selbstbetrug, der zum Bankrott führt. So wenig wir mit Hilfe des Mikroskops das Leben im tierischen Organ oder in der Pflanzenzelle beobachten können, ebensowenig können wir den Vorgang belauschen, durch welchen in einem Menschengehirn der Laut und die Bedeutung eines Wortes sich unmerklich verwandelt. Während aber die Physiologen wohl die Arbeit nicht gescheut haben, die Entwicklung eines Embryo von Stunde zu Stunde mikroskopisch zu beobachten, um wenigstens genauer zu beschreiben, was sie nicht erklären können, haben die Sprachforscher bis zu diesen Tagen kaum eine Ahnung von der Pflicht zu solchen mikroskopischen Untersuchungen.
In einem glücklichen Augenblick hat Gr. v. d. Gabelentz (Sprachwissenschaft S. 277) den Einfall ausgesprochen, er stelle sich drei Menschen vor, Großvater, Vater und Sohn, die ihr Gebirgsdorf niemals verlassen haben und deren Individualsprache alle paar Jahre mit phonographischer Treue festgelegt wird, um erstens die Unterschiede der drei Generationen und zweitens die Veränderungen beobachten zu können. Gabelentz selbst nennt seinen Einfall ein wenig überspannt. Er hat also doch nicht gesehen, dass nur eine solche mikroskopische und unaufhörlich wiederholte Reihe von Beobachtungen ernsthaftes Material für die Erforschung des Sprachlebens bieten würde. Ich will aber gern zugestehen, dass eine solche wissenschaftliche Tätigkeit der Sprache gegenüber ebenso unausführbar wäre wie der lebendigen Natur gegenüber; das wirkliche Leben mit seiner unendlichen Mannigfaltigkeit nebeneinander und nacheinander hat im Menschengehirn keinen Platz. Da die mikroskopische Sprachuntersuchung unausführbar ist, so ist eine ernste Erkenntnis des Sprachlebens unerreichbar. Nur Stichproben lassen sich aus der ungeheueren Menge herausholen, die aber wissenschaftlich nur höchst mangelhafte Induktionen bieten. So betrachtet ein Wanderer wohl einmal die Zeichnung einer Blume genauer als sonst, lächelt erfreut und geht dann weiter. Er ist reicher geworden um einen Blick der Naturfreude, nicht um einen Gedanken Naturerkenntnis.
Immerhin sind solche Stichproben, wie sie seit einigen Jahren namentlich in Deutschland aufgehäuft werden (beinahe schon unübersehbar), sehr dankenswert. Aber sie sind immer noch nicht mikroskopisch genug. Ich glaube, die gelehrten Herren sollten das Feld ihrer Tätigkeit noch enger abgrenzen; je stärker die Vergrößerung des Mikroskops, desto kleiner das Sehfeld. Haben sie sich schon auf kleine Landschaften zu beschränken gesucht, so möge jeder einmal die Geschichte der Sprache in seinem eigenen Hause studieren. Ich verspreche ungeahnt reiche Ausbeute. Die minimalen Wirkungen von Kindern auf Eltern, von der Schule auf das Haus, von der Küche auf die Wohnstube usw. lassen sich viel häufiger feststellen, als man glauben sollte. Ich selbst besitze eine Menge solcher Notizen. Ich habe meinen Großvater noch sehr gut gekannt, der vor dem Jahre 1770 geboren war. Er gebrauchte noch hundert Jahre später mitunter unberührt von der Sprachentwicklung Ausdrücke, die uns bei Schiller als Archaismen berühren, z. B. "itzo". Wenn er sich bemühte, modern zu scheinen und "jetzt" zu sagen, so gelang es nicht recht. Meine Mutter, die etwa fünfzig Jahre später geboren war, hatte im Verkehr mit ihrem Vater gewisse sprachliche Formen des 18. Jahrhunderts beibehalten. Sie gebrauchte ihm gegenüber alamodische Worte des 18. Jahrhunderts, die ihr in der Unterhaltung mit uns Kindern nicht einfielen. So nannte sie ihn in Briefen nicht anders als Sie, während sie ihn im Gespräch duzte. Als kleiner Knabe sprach ich selbst dem Großvater manches seiner veralteten Worte nach; jetzt habe ich sie wieder neu lernen müssen.
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