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458. (Sich) Entblöden¹⁾. (Sich) Scheuen²⁾.

1) To dare. Avoir l’audace de (oser).
Ardire (non vergognarsi di far checchessia).
2) To fear. Craindre, reculer devant.
Temere.

Sich scheuen ist der allgemeinste Ausdruck und heißt, sich von einer Handlung abhalten lassen durch die Besorgnis, es könne daraus irgend ein Übel entstehen. Er war in der größten Wut, doch scheute ich mich nicht, ihn anzureden. Ich mußte nämlich eine üble Behandlung von ihm besorgen, allein diese Besorgnis hielt mich nicht ab. Sich entblöden (eig. in den Zustand des Blödeseins eintreten, ent- ist hier nicht privativ [verneinend], sondern inchoativ, z. Art. 442, es bezeichnet das Eintreten in einen Zustand, wie in: entschlafen, entblühen, entzünden, entblößen usw.) ist nur eine Art des Scheuens, es bedeutet nämlich, sich von einer Handlung dadurch abhalten lassen, daß man eine Verletzung der Ehrerbietung und Bescheidenheit, der gesellschaftlichen Sitte und eine aus dieser Verletzung folgende Beschämung fürchtet. Gegenwärtig ist von sich entblöden nur die Verneinung im Gebrauch und sich nicht entblöden heißt so viel, wie sich nicht scheuen, sich erdreisten. Frisch, Deutsch-lateinisches Wörterbuch I, 111c jedoch und Grimm, Wb. III, 499 erklären den Gebrauch von sich nicht entblöden für unrichtig, indem sie das ent- in entblöden privativ nehmen und entblöden erklären als: die Blödigkeit benehmen, beherzt machen. In der Tat findet sich auch bei Gleim, Wieland und einigen andern Schriftstellern des achtzehnten Jahrhunderts: sich entblöden in der Bedeutung: sich erkühnen, sich erdreisten, z. B. „Verwegener, darfst du dich entblöden, | mit mir, des Donnerers Gemahlin, so zu reden?“ Wieland Ausg. von 1794, Leipzig, bei Göschen, X, 175. Doch steht bei denselben Schriftstellern sich entblöden auch in der gerade entgegengesetzten und ursprünglichen Bedeutung: sich schämen, sich scheuen, z. B. „Du solltest dich entblöden (d. i. dich scheuen, schämen) ... aus diesem Ton zu reden.“ Wieland (Ausgabe von 1853) XII, 174. Der Gebrauch von entblöden in dem Sinne von beherzt machen ist vermutlich nur auf falsche Analogie zurückzuführen: man stellte es fälschlich mit Bildungen wie entblättern, entkleiden, enthüllen, entdecken usw. zusammen. Daher ist der gegenwärtige Sprachgebrauch, der sich nicht entblöden im Sinne von: sich erdreisten, sich erkühnen setzt und der also auf die ursprüngliche Bedeutung zurückgreift, völlig in seinem Rechte. „Die entsetzlichen Franzosen hatten sich nicht entblödet, der heiligen Jungfrau offenbar Gewalt anzutun.“ Seume. „Wie nicht die Willkür sich entblöde | die gleichgebornen Menschen doch in Klassen | zu teilen.“ Chamisso, Der Republikaner zu Paris am 7. Aug. 1830. — Selbst wenn aber auch die Annahme Grimms, daß in entblöden das ent- ursprünglich privativ sei, richtig wäre, so würde das doch nicht imstande sein, den gegenwärtigen Gebrauch von sich entblöden in der Bedeutung sich scheuen als falsch und unberechtigt erscheinen zu lassen. Wir haben häufig in unserer Sprache einen Bedeutungswandel, der oft so weit geht, daß die Bedeutung eines Wortes im Laufe der Zeit geradezu ins Gegenteil umgeschlagen ist; es sei hier nur an das Wort schlecht erinnert, das früher schlicht, glatt, gerade bedeutete, gegenwärtig aber nur noch als Gegensatz von gut verwendet wird (mit Ausnahme der formelhaften Wendung schlecht und recht). Wir können die alte Bedeutung von schlecht nicht auf künstlichem Wege wieder herstellen, und niemand wird diesen Versuch machen; wir beugen uns vielmehr dem allgemeinen Sprachgebrauch, der hier zugleich maßgebend für unser Sprachgefühl geworden ist, und genau in demselben Falle befinden wir uns der Wendung sich nicht entblöden (d. i. sich nicht scheuen) gegenüber. Überall, in ganz Deutschland, im Norden und Süden, im Westen und Osten gebraucht man diese Wendung in der genannten Bedeutung, unsere besten Dichter und Schriftsteller schreiben so, diese Wendung ist vollständig in unser Sprachgefühl übergegangen; da ist es ganz einfach die Pflicht der Wissenschaft, diese Wendung anzuerkennen, selbst wenn hier ein Bedeutungswandel vorläge. Es gibt in sprachlichen Dingen keine andere Autorität als die Sprache selbst; die lebendige Sprache schreitet in ihrer Entwicklung ruhig über das Ansehen auch des berühmtesten Sprachforschers hinweg und läßt sich nicht künstlich wieder in eine alte überwundene Form zurückdrängen. Es ist unerklärlich, wie man die Wendung sich nicht entblöden auf das Ansehen Grimms hin immer und immer wieder angreifen und tadeln kann, obwohl doch die lebendige Sprache uns täglich eines bessern belehrt und überhaupt kein wirklicher Grund vorliegt, der diese Wendung als tadelnswert erscheinen ließe. Gerade Jakob Grimm hat selbst am entschiedensten gegen eine solche Auffassung der Sprache, wie sie Adelung predigte, Verwahrung eingelegt. Sollen wir uns nun an den Buchstaben der Aufstellungen Grimms oder an den Geist seiner unsterblichen Werke halten? Ich glaube doch, daß allein das letztere Grimms würdig ist und daß sich die Sprache nicht nach der Sprachwissenschaft, sondern umgekehrt die Sprachwissenschaft nach der Sprache zu richten hat. — Sich entblöden kommt nur in gewählter Sprache vor, gebräuchlicher ist sich scheuen.