Österreich


Am wenigsten in deutschen Landen fand Kants ernste und tiefe Philosophie Anklang in dem warmherzigen, aber leichtlebigen und denkunlustigen Österreich.*)

Selbst das Jahrzehnt von Kaiser Josefs freisinniger Regierung hatte Wien der "Stadt der Phäaken" (Schiller), dem "Capua der Geister" (Grillparzer) doch nur ein dünnes Aufklärungs- und Freiheitsmäntelchen umgehangen (Ortner)**). Im November 1786 war Kants Kritik noch in keinem Buchladen der volkreichen Hauptstadt des römisch-deutschen Kaisertums zu haben, und schon die Aufschrift de Weimar auf einem Briefe Reinholds an den Barnabitenpater Pepermann erregte Verdacht. Zwei Jahre spater war sie zwar in den Läden der Buchhändler und im Munde der Leute, aber es gab doch nur sehr wenige, die sie ernstlich studierten. Sie machte Aufsehen, so berichtete der junge Wiener Dr. phil. Andreas Richter am 22. Oktober 1788 an Kant selbst, bei denen, die ihren alten Schlendrian gewohnt seien, aber diese beschränkten sich darauf, sie zu schelten, ohne sie zu durchdenken. Eben der Umstand, dass er sich "mit niemand in Wien über Ihr philosophisches Gebäude besprechen" könne, treibe ihn dazu, Kant selbst eine Anzahl Fragen vorzulegen. Die Philosophie galt dem Wiener Literatenvolk, darunter auch dem bekannten Travestator der Äneide Aloys Blumauer, als müßige Grübelei finsterer Stubengelehrter. So fühlte sich denn der junge Erhard während seines Wiener Aufenthaltes 1791/92 infolge des Mangels jeglicher geistiger Anregung sehr unglücklich. Wer aus dieser dumpfen österreichischen Luft nach Freiheit strebte, ging eben nach Jena, Halle, Würzburg oder Königsberg, um die neue Philosophie an der Quelle zu studieren: so der ordensflüchtige Karmeliter Tschink, Reinholds ältester Schüler, so der junge Steirer Graf Purgstall und der Kärntner Industrielle Freiherr von Herbert, von denen wir später noch hören werden, so der spätere Dramaturg des Burgtheaters, der junge Josef Schreyvogel, der in seinen Tagebüchern Kant den "tiefsten und reinsten Geist" nennt, "der jemals schrieb und lehrte", und seine Religionsphilosophie das unvergängliche "neue Evangelium". Die 'Religion innerhalb' galt natürlich in dem Reich des beschränkt-despotischen Franz des Ersten erst recht als Konterbande; und ebenso, wenn nicht gar in noch höherem Grade, verfemt und als revolutionär verschrien waren Kants politische Anschauungen.

Trotz alledem sollte auch hier, wie wir noch sehen werden, wenigstens in einzelnen die neue Saat aufgehen. Und vor allem: dies Österreich, das seit Luthers Zeiten an den Fortschritten des deutschen Geisteslebens kaum teilgenommen hatte, das nach dem Urteil eines Kantianers "ein fünfzig Jahr hinter dem übrigen Deutschland zurück war", bedeutete nicht — Deutschland! In diesem letzteren, besonders in dem protestantischen Nord- und Mitteldeutschland, hatte doch das Aufsichselbststellen des Menschen in Sachen der Vernunft, und noch mehr fast das sittliche Feuer von Kants Persönlichkeit, zumal unter dem jüngeren Geschlechte, mächtig aufrüttelnd gewirkt. Wir können diesen Abschnitt nicht besser schließen als mit der warmherzigen Schilderung, die kaum ein Dutzend Jahre später — während Kant noch atmete, aber sein Kritizismus schon vor den anschwellenden Wogen der Romantik zurückzutreten begonnen hatte — der bekannte rationalistische Theologe Paulus von dieser ersten Ruhmeszeit der Kantischen Philosophie entwirft:

"Wie herzerhebend waren die Jahre der Kantischen Morgenröte! Lang angebetete Vorurteile verkrochen sich. Die Kraft des Denkens erhob sich zu einem für alle Arten von Despotismus furchtbaren Ansehen! Alle Fächer waren bereit, sich diesem Szepter, der Herrschaft der Gründe, zu unterwerfen. Warum? Die Moralität der Menschen war angeregt worden mit Macht. Alle Tätigkeit wurde geheiligt und alles Heilige aus der trägen Passivität der Aftertheologie zur Aktivität aufgefordert ..." (Paulus an Reinhold, 3. April 1802).

 

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*) Wir entnehmen den größten Teil der folgenden Tatsachen dem Aufsatze von Max Ortner 'Kant in Österreich' im Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft 1904.

**) Ortner, selbst Österreicher, möchte als Motto an die Spitze seiner Betrachtungen die Verse seines Landsmannes Graf Wickenburg ("Mein Wien", 1894) stellen:

"Ein Glück, dass Kant sich nicht zu uns verloren,

Sonst gings wohl mit der strengen Ethik schief:

In Wien hätt' er ihn sicher nicht geboren,

Den kategorischen Imperativ!

Das Wort: Ich soll, stimmt schlecht zum Wiener Triebe,

Der nur uns handeln heißt aus Lust und Liebe."


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