2. Die Entwicklung des Menschen


Allmählich wendet sich Kant naturwissenschaftliches Interesse mehr dem Menschen zu. Schon die im 6. Kapitel des vorigen Buchs besprochene Rezension Moscatis (1771) zeigte, dass er vorurteilslos genug war, die Verschiedenheit zwischen Tier und Mensch nicht als eine grundsätzliche zu betrachten. Ihre weitere Anwendung auf den letzteren erfahren die im 'Beweisgrund' nur gestreiften biologischen Hypothesen in der einzigen längeren Abhandlung der 70er Jahre:

 

Von den verschiedenen Rassen der Menschen (1775)

In jedem organischen Körper — sei es Pflanze oder Tier (Mensch) — liegen Keime, d. h. Gründe einer bestimmten Entwicklung besonderer Teile. Sie heißen Anlagen, wenn sie sich nur auf die Größe oder das Verhältnis dieser Teile untereinander beziehen. Eine dauerhafte Entwicklung derselben begründet eine Rasse. Diese Entwicklung wird nun zwar einer "Vorbildung" und "Fürsorge" der Natur zugeschrieben, nicht dem Zufall oder bloß mechanischen Gesetzen. Indes stecken doch — ähnlich wie in seiner Geschichtsphilosophie (s. Kap. 3) — hinter den teleologischen Wendungen öfters ganz moderne Gedanken. Die Natur "artet" dem Boden an: so haben z. B. die Vögel in kälteren Ländern ein dichteres Federkleid, die Weizenkörner eine festere Hülle (Anpassung). Die Beschaffenheit von Klima und Nahrung bringt allmählich einen erblichen Unterschied unter Geschöpfen derselben Rasse hervor (Vererbung). Es ist möglich, durch sorgfältige "Aussonderung" der "ausartenden" Geburten zuletzt einen dauerhaften Familienschlag zu errichten (Selektion). Allerdings können äußere Dinge, wie Luft, Sonne, Nahrung, immer nur Gelegenheits-, niemals hervorbringende Ursache sein. Sie vermögen wohl das Wachstum und die Erhaltung, nicht aber die Zeugungskraft, den Lebensquell selbst hervorzurufen. Anderseits können Keime auch erstickt werden. Im allgemeinen hält Kant somit hier, wie auch in der zehn Jahre später im Novemberheft der Berliner Monatsschrift veröffentlichten Abhandlung:

 

Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse (1785)

an der Konstanz der Arten fest. Rasse ist "der Klassenunterschied der Tiere eines und desselben Stammes, soweit er unausbleiblich anerbt". Künstliche Züchtungsversuche bei Hunden und Hühnern, auf deren Gelingen er gelegentlich in seinen Vorlesungen hinwies, erklärt er hier für eine Künstelei, die in das Zeugungsgeschäft der Natur hineinpfusche, ohne doch wesentliche Abweichungen von dem "alten Original" bewirken zu können. Gewisse Keime seien auch in den Rassen "ganz eigentlich angelegt". Die Keime oder ursprünglichen Anlagen selbst werden in der gleichzeitigen Herder-Rezension (s. Kap. 3) als "weiter nicht erklärliche Einschränkungen eines sich selbst bildenden Vermögens" bezeichnet. Auch in dem im Januar/Februar 1788 in Wielands 'Teutschem Merkur' abgedruckten Aufsatz:

 

Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie,

der auf die in der gleichen Zeitschrift gegen seine Rassentheorie erhobenen Einwände des jüngeren Forster erwidert, finden wir die gleichen Anschauungen. Wie der ursprüngliche Stamm selbst entstanden sei, das zu bestimmen liege jenseits der Grenzen des dem Menschen möglichen Wissens. Die Entwicklung der Anlagen richtete sich nach den Gegenden, in denen sie vor sich ging, wenigstens in der ältesten Zeit, während später der voll entwickelte Rassencharakter durch Wanderungen in ein anderes Klima nicht mehr verändert werden konnte. Neben der Tendenz zur Einheit und Beharrlichkeit besitzt aber die Natur auch eine solche zur Hervorbringung von Mannigfaltigkeit.

Wir gehen nicht auf die Einzelheiten von Kants jetzt größtenteils veralteten Theorien ein. Bezeichnet er selbst doch in der Abhandlung von 1785 diese Dinge, wie z. B. die Erklärung des Ursprungs der jetzt vorhandenen Rassen, als "Nebenwerk, womit man es halten kann, wie man will". Nur als Kuriosum und als Beweis dafür, zu welchen Phantasien der als so nüchtern angesehene kritische Philosoph gelegentlich geneigt war, sei eine von Menzer aus den noch unveröffentlichten Vorlesungen über Metaphysik wiedergegebene Stelle erwähnt. Es geht doch noch über die denkenden und rechnenden Pferde Kralls (Elberfeld) hinaus, wenn er dort eine Zukunft ausmalt, in der die Tiere Städte bauen (!) und die Menschen überhaupt "das durch die Tiere tun lassen würden, was sie (die Tiere) tun könnten und vor sie (die Menschen) unanständig wäre"*). Freilich bei aller Steigerung ihrer Fähigkeiten würden sie nie zu der Vernunft gelangen, die den Menschen dann einen Zustand edler Glückseligkeit bereiten würde.

Dasjenige, worauf für Kant auch hier alles ankommt, ist die philosophische Bewertung und Begründung der Naturwissenschaft, zu deren empirischer Einzeldurchforschung ihm, vorausgesetzt auch, dass er die Fähigkeit dazu besessen hätte, sein großes philosophisches Unternehmen nicht die Muße ließ.

 

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*) Menzer, Kants Lehre von der Entwicklung in Natur und Geschichte. Leipzig 1911, S. 110. Ob Kant so gesprochen haben kann?


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