Was heißt sich im Denken Orientieren?


Mendelssohn hatte in seinen 'Morgenstunden' geäußert: so oft die Vernunft mit dem schlichten Menschenverstand ("Gemeinsinn") in Zwiespalt gerate, müsse sich der Weltweise an letzterem "orientieren", der erfahrungsgemäß in den meisten Fällen das Recht auf seiner Seite habe. Daran knüpft der Titel der Abhandlung an. Kant unterscheidet eine geographische, mathematische und logische Orientierung. Nur mit der letzteren hat es der Philosoph zu tun. Da sei nun der "gesunde Menschenverstand" Mendelssohns ein sehr unzuverlässiges Orientierungsmittel. Habe er doch bei dessen Gegnern, Jacobi und dem noch scharfsinnigeren Wizenmann, zu "gänzlicher Entthronung" der Vernunft geführt. Gewiß entspringt die Annahme eines Übersinnlichen, insbesondere der Begriff eines Urwesens, einem Bedürfnis unserer Vernunft; aber Bedürfnis ist ein Gefühl, kein Beweis. Vergißt man das, so fällt man ins Dogmati-sieren zurück, wie der "würdige" Mendelssohn. Immerhin aber baute dieser mit Recht auf die Vernunft als letzten Probierstein der Wahrheit; denn der auf einem zwar subjektiven und praktischen, gleichwohl aber notwendigen Bedürfnis unserer Vernunft beruhende reine Vernunftglaube muß in der Tat unser Orientierungskompaß im Felde des Übersinnlichen sein. Hiergegen wendet sich die neue Richtung Jacobis und seiner Freunde, die damit — soweit gibt also Kant den Berlinern recht — "aller Schwärmerei, Aberglauben, ja selbst der Atheisterei eine weite Pforte öffnet". Bei dieser Gelegenheit verwahrt sich unser Philosoph vor allem in einer langen und scharfen Anmerkung gegen den Vorwurf des Spinozismus, der Dogmatismus und Schwärmerei miteinander verbinde, während der Kritizismus allein beide mit der Wurzel ausrotte, sowie auch dem (der Kritik ebenfalls vorgeworfenen) Skeptizismus ein Ende mache.

Dann aber wendet er sich — im Gegensatz zu den Berlinern — nicht bitter und scheltend, sondern mahnend und warnend an die neuen Philosophen als die "Männer von Geistesfähigkeiten und erweiterten Gesinnungen", deren "Talente" er verehrt, deren "Menschengefühl" er liebt. Er mahnt sie, an der Denkfreiheit festzuhalten, ohne die es auch mit ihren "freien Schwüngen des Genies" bald zu Ende sein würde. Er warnt sie, durch ihre unbesonnenen Angriffe auf die Vernunft die jetzt noch bestehende Freiheit des Redens und des Schreibens zu gefährden: "das einzige Kleinod, das uns bei allen bürgerlichen Lasten noch übrigbleibt, und wodurch allein wider alle Übel dieses Zustandes noch Rat geschafft werden kann." Der Grundsatz, den kühnen Schwung des Genies als alleinigen Maßstab anzuerkennen, führe notwendig zur Schwärmerei, wie "wir gemeine Menschen" jene famose "Erleuchtung" oder Eingebung von oben nennen. Damit aber entweder zum Aberglauben, d. h. gänzlicher Unterwerfung der Vernunft unter historische Fakta und vorgeschriebene Glaubensformeln; oder aber zur "Freigeisterei", d. h. völliger Gesetzlosigkeit im Denken, die dann das Eingreifen der Obrigkeit und so die Zerstörung aller Denkfreiheit durch "Landesverordnungen" herbeiführt. So schließt er denn, wenige Wochen, ehe Friedrich der Große ins Grab sank, mit dem das Zeitalter der Aufklärung seinem Ende entgegenging, jetzt nicht mehr mit frohem Stolze auf seine Zeit, wie zwei Jahre vorher, sondern mit dem beweglichen Aufruf: Haltet, wenn anders Ihr Freunde des Menschengeschlechts und des Heiligsten an ihm sein wollt, fest an der Vernunft als letztem Probierstein der Wahrheit; denn eben hierin, d. h. dem Grundsatz des Selbstdenkens, und nicht in einer Summe theoretischer Kenntnisse, wie manche sich einbilden, besteht wahre Aufklärung! — So mündet Kants Schrift, wenn auch aus Gelegenheitsursachen entstanden, aus in ein erhebendes Bekenntnis zu den stets unverrückt gebliebenen Grundlagen seines eigenen Denkens und Handelns. Kant dankt Jacobi noch mehr als zwei Jahre später für sein Buch über Spinoza in einem ausführlichen, namentlich religionsphilosophisch interessanten Schreiben. Zu seiner Abhandlung über das Orientieren, bemerkt er hier entschuldigend, sei er "wider seine Neigung" durch die von verschiedenen Seiten an ihn ergangene Aufforderung, sich von dem Verdachte des Spinozismus zu reinigen, genötigt worden. Aber Jacobi werde auch in ihr hoffentlich seinen (Kants) Grundsatz nicht verleugnet gefunden haben, "Männern von Talent, Wissenschaft und Rechtschaffenheit mit Achtung zu begegnen, soweit wir auch in Meinungen auseinander sein möchten". Auch in der Verurteilung von Herders 'Gott' fand Jacobi sich damals mit Kant zusammen: "Wirklich ist Herders Gespräch, als philosophische Kritik betrachtet, unter aller Kritik und enthält beinah kein wahres Wort." Im folgenden März (1790) ließ Kant ihm sogar ein Dedikations-Exemplar seiner Kritik der Urteilskraft zugehen. Von einem späteren indirekten Zusammenstoß (1796) wird im letzten Buche die Rede sein.


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