Pflicht


Indem nun vermittelst des Gefühls das Sittengesetz Triebfeder unseres Handelns wird, erwacht in uns das Bewußtsein der Pflicht. Bekannt und vielfach angegriffen worden ist die unerbittliche Strenge, mit der Kant diesen seinen Pflichtbegriff aller Klugheit- und Neigungsmoral entgegensetzt. Wenn der Kaufmann seinen Kunden nicht überteuert, wenn ein von schwerem Unglück Betroffener dennoch den Mut zum Weiterleben bewahrt, wenn ein Menschenfreund durch Wohltun Freude um sich verbreitet, so haben diese Handlungen nur dann sittlichen Wert, wenn sie nicht aus Geschäftsklugheit, Angst oder Gutmütigkeit, sondern aus dem Gefühl der Pflicht hervorgehen. "Es ist sehr schön, aus liebe zu Menschen und teilnehmendem Wohlwollen ihnen Gutes tun", aber das ist noch nicht "die echte moralische Maxime unseres Verhaltens. ... Pflicht und Schuldigkeit sind die Benennungen, die wir allein unserem Verhältnis zum moralischen Gesetze geben müssen". "Die Ehrwürdigkeit der Pflicht hat nichts mit Lebensgenuß zu schaffen, sie hat ihr eigentümliches Gesetz ... und wenn man beide auch noch so sehr zusammenschütteln wollte, um sie vermischt, gleichsam als Arzneimittel, der kranken Seele zuzureichen, so scheiden sie sich doch alsbald von selbst." Solcher "Rigorismus" Kants ist oft gescholten worden, und doch ist er nur die methodische Konsequenz der reinen Ethik. Um den Pflichtbegriff "ganz rein" zu haben, mußte der Philosoph ihn scharf von allem Glückseligkeitsbegehren sondern; Verzicht auf Glückseligkeit wird damit nicht gefordert, bei unserem besseren Selbst findet er vielmehr von selber Eingang. Nichts anderes sagt die berühmte Apostrophe an die Pflicht: "Pflicht! Du erhabener großer Name, der du nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich führt, in dir fassest, sondern Unterwerfung verlangst, doch auch nichts drohest, was natürliche Abneigung im Gemüte erregte und schreckte, um den Willen zu bewegen, sondern bloß ein Gesetz aufstellst, welches von selbst im Gemüte Eingang findet und doch sich selbst wider Willen Verehrung (wenngleich nicht immer Befolgung) erwirbt, vor dem alle Neigungen verstummen..." (Kr. d. pr. V., S. mf.)

Ja, in dieser Reinheit und Strenge — das führt schon die Grundlegung und noch ausführlicher die populär geschriebene 'Methodenlehre' des Hauptwerks aus — wirkt sie auf den unverdorbenen Menschen stärker als alle Lockungen oder Drohungen. Nur bei ungebildeten oder verwilderten Gemütern bedarf es, zur Vorbereitung, eines solchen Gängelbandes. Sobald dies nur einigermaßen seine Wirkung getan, muß man das rein moralische Motiv wirken lassen, das allein dem Menschen Charakter, Würde und Seelenstärke verleiht und sich als die mächtigste, ja im letzten Grande einzig dauerhafte Triebfeder zum Guten erweist. Die Empfänglichkeit dafür, meint Kant, zeige sich schon in der Neigung zum Räsonnieren, d. h. Aussprechen sittlicher Werturteile, die man in jeder Gesellschaft, auch von Geschäftsleuten und Frauenzimmern, ja schon bei Kindern wahrnehmen könne. Diese Neigung sollten die Jugenderzieher sich zunutze machen, um an Musterbeispielen aus den Biographien alter und neuer Zeit die moralische Urteilskraft ihrer Zöglinge zu schärfen und einen guten sittlichen Grund zu legen. Dabei sei jedoch nicht, wie es jetzt so häufig geschehe, das Edle, Großmütige, "Überverdienstliche" solcher Handlungen zu betonen — das bringe nur sittlichen Hochmut oder Empfindelei und Romanheldentum hervor —, sondern das einfache Gefühl der "Pflicht und Schuldigkeit"; denn nicht auf hochfliegende oder weichherzige Gefühlsaufwallungen, sondern auf festgewurzelte Grundsätze kommt es an.

Den Schluß der 'Grundlegung' bildete der tiefsinnige Gedanke, dass wir zwar die unbedingte Notwendigkeit des Sittengesetzes nicht zu begreifen vermögen, "aber doch seine Unbegreiflichkeit". Der 'Beschluß' der praktischen Vernunftkritik faßt noch einmal in schwungvoll erhebender Sprache, wie sie bei Kant nicnt häufig ist, die beiden großen Gebiete, denen er seine beiden ersten systematischen Werke gewidmet hat, Natur und Sittlichkeit, zusammen in dem berühmten Worte von den beiden "das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht erfüllenden Dingen", das man in die Marmortafel gegenüber seinem Grabmal gemeißelt hat: "Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir." Dort der Anblick einer zahllosen Menge ins Grenzenlose gehender sichtbarer Welten, hier der Einblick in die unendliche Welt meines unsichtbaren Selbst, meiner von der gesamten Sinnenwelt unabhängigen Persönlichkeit. Wie dort, so bedarf es jedoch auch hier eines Newton, der an die Stelle bloßer Bewunderung oder noch gefährlicherer "Genieschwünge" methodische Forschung setzt; denn "Wissenschaft, kritisch gesucht und methodisch eingeleitet", ist auch in der Ethik "die enge Pforte, die zur Weisheitslehre führt". Kant ist ein solcher Newton der Ethik gewesen.

Aber wenn es zu solcher "Weisheitslehre" kommen soll, müssen wir von der Begründung zur 2. Anwendung fortschreiten. Haben wir im Vorigen Kants Neubegründung der Ethik in so einfachen und knappen Zügen als möglich darzustellen gesucht, so wollen wir nunmehr ihre Anwendung auf das menschliche, private und öffentliche Leben in großen Umrissen kennen lernen.


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