1. Begründung der Ethik
Das Neue der Ethik Kants
Was ist nun das Neue, das Eigenartige an dem Ethiker Kant?
Wie seine Neubegründung der theoretischen Philosophie, so entspringt auch die neue Ethik am letzten Ende den Grundzügen seiner Persönlichkeit: tiefstem Klarheits- und Wahrheitsbedürfnis, männlicher Selbständigkeit, unerbittlicher Folgerichtigkeit: diesmal nur angewandt auf die Welt des Wollens und des Handelns. Auch sie muß einen Grund haben, der auf sich selbst ruht und unerschütterlich ist.
Die Keime dazu waren bei ihm schon früh gelegt, in der reinen Sinnesart des frommen Elternhauses. Auch die stoische Ethik, die er in den Versen seiner oft zitierten römischen Dichter kennen lernte, hat sicher den Jüngling und noch den Mann beeinflußt. Und das Leben hatte diese Grundsätze in ihm neu befestigt. Es war ihm kein bloßes Wort geblieben: das 'Tu ne cede malis, sed contra audentior ito' des Vergil, das 'Summum crede nefas ... propter vitam vivendi perdere causas' des Juvenal, nnd das 'Quod petis, in te est, ne tu quaesiveris extra' des Persius.*) Dazu kam dann der Einfluß Rousseaus (B. II, Kap. 3), der ihn in der Auffassung von der ursprünglichen Würde der Menschennatur bestärkte. Aber sein Innerstes erstrebte einen festeren Grund als den des bloßen Gefühls. Er ruht nicht, bis er seine sittlichen Anschauungen unter einen bestimmten Grundsatz gebracht hat, der ihm eine feste Regel, die Folgerichtigkeit eines in sich widerspruchslosen Handelns gewährleistet. Die Geburtsstunde dieser neuen Erkenntnis, die "Gründung" seines "Charakters", ist ihm für ewig unvergeßlich geblieben. Das zeigt eine Stelle seiner spätesten Schrift, der Anthropologie, in der er sie als "eine Art der Wiedergeburt" bezeichnet, von einer "gewissen Feierlichkeit der Angelobung", die man dabei "sich selbst tut", redet und diesen "unvergeßlichen" Anfang einer "neuen Epoche" des Lebens, einer "Explosion" vergleicht, die dem "schwankenden Zustande des Instinkts", dessen man "überdrüssig" geworden, mit einmal ein Ende mache. Nur wenige würden diese Revolution vor dem dreißigsten Jahr versucht, noch weniger sie vor dem vierzigsten fest gegründet haben! (Anthropologie, hrsg. v. K. Vorländer, S. 238).
Aufleuchten sahen wir die neue Ansicht schon gelegentlich in seiner bisherigen philosophischen Entwicklung, und wer will, kann sie in seinen Schriften bis 1784 genau verfolgen. Jetzt aber in der Mitte der 80er Jahre, kommt sie, frei von aller religiös-kirchlichen Färbung, in der ersten rein ethischen Schrift des bereits Sechzigjährigen, mit der in allen diesen Jahren angesammelten Intensität zum wuchtigsten Ausdruck in dem einen Satze mit dem seine 'Grundlegung zur Metaphysik der Sitten' einsetzt: "Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außerhalb derselben möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille". Ein Satz, wie er in dieser Klarheit und Schärfe noch von keinem Philosophen, ja kaum von einem Religionsstifter bis dahin ausgesprochen worden war. Mag Plato die Idee des Guten poetischer verklärt, mögen die Weisen der Stoa trotziger ihr "Sich-selbst-getreu-sein" und ihre "Selbstgenügsamkeit" (Autarkie) der Welt der äußeren Güter entgegengehalten, mag der "Lehrer des Evangelii", wie Kant den Stifter des Christentums lieber bezeichnet, anstatt ihn mit Namen zu nennen, mag Jesus mit größerer religiöser Wärme die Reinheit des Herzens als das Eine, was not tut, den in Werkdienst versunkenen Volksgenossen verkündet haben: in dieser philosophischen Kraft und Klarheit, in dieser zugleich so einfachen, fast nüchternen Form war das innerste Prinzip der Sittlichkeit noch nirgends ausgesprochen worden.
Unser Philosoph ist sich dessen auch vollauf bewußt. Mit siegesgewisser Entschiedenheit stellt er seine Ethik als völlig neu aller bisherigen gegenüber. Bisher haben alle Philosophen zur Begründung der Sittlichkeit einen außer ihr liegenden letzten Maßstab angenommen: gröber Denkende den des körperlichen, Verfeinerte den des inneren Glücksgefühls, andere, die damit etwas Besonderes zu leisten meinten, den des sittlichen Gefühls oder moralischen Sinnes. Allein die Begründung der Sittlichkeit hat überhaupt nichts mit Lustgefühlen zu tun. Auch der Wille Gottes, ja selbst das Prinzip der Vollkommenheit genügen dafür als letzter Maßstab nicht. Denn wer will wissen, was Gott will, wer bestimmen, worin Vollkommenheit besteht? Deshalb sucht Kant seine Moral von aller religiösen Beimischung immer wieder streng freizuhalten; nicht aus Abneigung gegen die Religion, sondern um der Ethik Reinheit und Eigenart zu wahren.
Und doch will seine Sittenlehre gar nichts Besonderes sein, durchaus nicht etwa eine ganz neue Sittlichkeit lehren, die vorher nie dagewesen wäre. Sie ist sich vielmehr bewußt, im Einklang mit der gemeinen Menschenvernunft zu stehen; nur zu den "kopfverwirrenden" Spekulationen der "Schulen", d. h. der alten und neuen Metaphysiker, im Gegensatz sich zu befinden. Eigentlich könnten, meint Kant, nur Philosophen die Frage, was eigentlich reine Sittlichkeit sei, zweifelhaft machen; in der "gemeinen Menschenvernunft" sei sie längst so sicher entschieden, wie der Unterschied von rechts und links. Darum glaubt er auch in der 'Grundlegung' noch, von einer besonderen 'Kritik der praktischen Vernunft' absehen zu können, weil "die menschliche Vernunft im Moralischen selbst beim gemeinsten Verstand leicht zu großer Richtigkeit und Ausführlichkeit gebracht werden" könne. Die Stimme der Vernunft spricht so deutlich, so "unüberschreibar" zu dem Willen selbst des gewöhnlichsten Menschen, die Grenzen zwischen Sittlichkeit und Selbstliebe sind für das gemeinste Auge so scharf abgesteckt, dass nur jene "Spekulationen der Schulen ... dreist genug sind, sich gegen jene himmlische Stimme taub zu machen".
Nein, ein neues "Prinzipium der Moralität" predigen zu wollen, wie Schopenhauer und Nietzsche es mit so großem Aplomb versucht haben, dazu ist unser Philosoph viel zu bescheiden. "Wer wollte auch einen neuen Grundsatz aller Sittlichkeit einführen und diese gleichsam zuerst erfinden? Gleich als ob vor ihm die Welt in dem, was Pflicht sei, unwissend oder in durchgängigem Irrtum gewesen wäre." Nicht darauf, sondern — was ein Rezensent der 'Grundlegung' in geringschätzigem Sinne bespöttelt hatte — auf eine neue Formel kommt es an. Auch die Ethik muß dem Wirrsal der einander ablösenden und bekämpfenden Systeme entrinnen, auch sie muß den sicheren Gang einer Wissenschaft einschlagen. "Wer aber weiß, was dem Mathematiker eine Formel bedeutet, die das, was zu tun sei, um eine Aufgabe zu befolgen, ganz genau bestimmt und nicht verfehlen läßt, wird eine Formel, welche dieses in Ansehung aller Pflicht überhaupt tut, nicht für etwas Unbedeutendes und Entbehrliches halten."
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*) Zu deutsch: "Gib dem Unglück nicht nach, sondern tritt ihm Um so mutiger entgegen." — "Halte es für die größte Sünde, um des bloßen Lebens willen den wahren Lebenszweck preiszugeben." — "Das, wonach Du strebst, ist in Dir; suche es nicht draußen."