2. Kant und die bildende Kunst
Inwieweit besaß er auf diesem Gebiete lebendige Anschauungen? In welchem Maße ist er mit alten oder modernen Kunstwerken bekannt gewesen?
Die Umstände, unter denen er emporwuchs: das bescheidene Häuschen der einfachen Sattlerfamilie, die aller Kunst abgewandte Erziehung des Fridericianums, die unter Entbehrungen verbrachte Studentenzeit, der Aufenthalt in dem ländlichen Pfarrhause in Litauen boten auf dem Feld der bildenden Künste sicher noch weit weniger Anregung als auf dem der Dichtkunst. Gewiß, ein Winckelmann hat sich durch noch widrigere Umstände zum ersten Kunsthistoriker der Zeit hindurchgerungen. Aber Kant hatte wohl von jeher weniger Auge für das Kunstschöne, das er ja auch in seiner Kritik der Urteilskraft unter das Naturschöne stellt. So spricht er z. B. nirgends von dem ästhetischen Eindruck, den seine Vaterstadt auf ihn machte. Freilich bot — und damit sind wir gleich bei der
A. Baukunst
angelangt — Altkönigsberg in architektonischer Hinsicht nicht allzuviel. Die Bauart der hohen und schmalen Häuser war, abgesehen von sehr wenigen, ärmlich und stillos. "Im ganzen hat die Stadt keine schöne Architektur," urteilt ein Reisender nach 1800. Die "Thumkirche", ein großer Backsteinbau, in deren Chor man jetzt seine Gebeine unterbringen will, hat auch mich nicht begeistern können. Einzig das Schloß wirkt imponierend, aber im Grunde doch auch mehr durch seine mächtige Größe und die daran sich knüpfenden geschichtlichen Erinnerungen, als durch schönes Ebenmaß. Von dem heute berühmtesten Bau Ostdeutschlands aber, der Marienburg, die zu seiner Zeit infolge der polnischen Wirtschaft gänzlich verfallen war, hat Kant offenbar ebensowenig wie andere, etwas vernommen; auch Abegg, der sicher auf solche Dinge aufmerksam war, erwähnt bei seiner Durchreise Marienburg in seinem Tagebuch nur als "artiges Landstädtchen" mit einer Schiffsbrücke. Und auch von den sonstigen gotischen Burg- und Kirchenbauten Ostpreußens spricht Kant nirgends. Es ist übrigens nicht sicher, ob jene Burg in ihrer heutigen Wiederherstellung sein Wohlgefallen gefunden hätte.*) Denn der ganze Kunstgeschmack des Mittelalters einschließlich der Baukunst, das Gotische, gilt ihm als barbarisch, ja "auf Fratzen hinauslaufend" (Schlußabschnitt der 'Beobachtungen', 1764), weil es "allenthalben Verzierungen anbringen will" (S. W. XVI, S. 110): abweichend von der "edlen Einfalt der Natur", wie er sie in der Plastik und Architektur der Griechen und Römer verkörpert findet, die allerdings in der römischen Kaiserzeit ins "Prächtige" entarte. Er teilt übrigens diese Geringschätzung, ja Verachtung der Gotik mit den größten Geistern seiner Zeit: Friedrich II., der ganz im Banne des Rokoko befangen, die 1772 wiedergewonnene Marienburg als Magazin gebraucht, mit Klopstock, der das mittelalterliche Viertel Nürnbergs nicht beachtet, mit Winckelmann, der die stolzen Kirchen seines heimatlichen Stendal ganz vergißt, mit Lessing, der die schönsten Muster der Gotik, die er in Kamenz, Meißen und Breslau zu sehen Gelegenheit hatte, keiner Beachtung würdigt. Ja selbst Goethes Begeisterung für die Gotik hängt doch mit dem Sturm und Drang seiner Jugend zusammen und wandelt sich später in Begeisterung für die Antike um. Ob unser Philosoph überhaupt die hehren mittelalterlichen Dome auch nur aus guten Abbildungen gekannt hat? Ihnen könnte er doch die "Idee", den "Plan des Ganzen" nicht absprechen, aus dem ein Bauwerk entsprungen sein muß, wenn es "den Beifall unserer Seele haben soll" (Anthropol.-Vorles. 1775/76, bei Schlapp, S. 139). In seiner Schrift führt er nur die Peterskirche zu Rom, und auch diese nur als Beispiel von Pracht an, wie die Pyramiden als solches von einfacher Größe. Wenn er in den 'Beobachtungen' zum Schluß die eigene Zeit preist, in welcher der "richtige Geschmack" aufblühe, so hat er freilich dieses Lob später durch eine nachträgliche Bemerkung in seinem Handexemplar wieder wesentlich eingeschränkt: "Unser Zeitalter ist das Jahrhundert der schönen Kleinigkeiten, Bagatellen oder erhabenen Chimären. Die Alten waren der Natur näher, wir haben zwischen uns und der Natur viel Üppiges ... Wir tun am besten, wenn wir uns durch die Muster der Alten leiten lassen: in der Bildhauerkunst und Baukunst, Poesie und der Beredsamkeit, den alten Sitten und der alten Staatsverfassung". Dass er übrigens nicht ohne Interesse, ja von auffallend starker Auffassungskraft für architektonische Gegenstände gewesen ist, zeigt Jachmanns bekannte Erzählung: "Er schilderte eines Tages in Gegenwart eines geborenen Londoners die Westminsterbrücke nach ihrer Gestalt und Einrichtung, nach Länge, Breite und Höhe und den Maßbestimmungen aller einzelnen Teile so genau, dass der Engländer ihn fragte, wieviel Jahre er doch in London gelebt, und ob er sich besonders der Architektur gewidmet habe?"
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*) Dass man sich auch als guter Kantianer für ein solches, der Blütezeit mittelalterlichen Rittertums entsprossenes Bauwerk begeistern kann, hat sein Jünger Theodor von Schön bewiesen, der als Oberpräsident der Provinz Preußen die Wiederherstellung der alten Ordensburg zuerst wieder in die Wege geleitet hat.