Göttingen:
Feder, Meiners, Kaestner, Lichtenberg,
der Dichter Bürger


Im ganzen scheint sich doch, nach den Berichten von Kants Anhängern, in der von jeher ziemlich konservativen Leipziger Universität die alte Schule gehalten zu haben. Wie überall, so zeigten sich auch in Göttingen, der Stadt mit der großen Bibliothek, der Universität der "zitierenden Wiederkäuer", wie Rosenkranz sie einmal übermütig getauft hat, die beati possidentes, d. h. die Fachprofessoren Feder und Meiners unfähig, die Tiefe der neuen Philosophie zu fassen. Mehr Philologen als selbständige Denker, taten sie sich auf ihre eklektische Vermittlungsphilosophie und ihre zahlreichen schriftstellerischen Erzeugnisse nicht wenig zugute. Wie stolz diese hochmögenden Herren auf Andersdenkende herabsahen, zeigt ein hübsches Geschichtchen, das Voigt in seiner Kraus-Biographie erzählt. Als Kants Schüler und späterer Kollege Kraus im Herbst 1779 nach Göttingen gekommen war, erzählte er in einer Professorengesellschaft, zu der auch Feder gehörte, Kant habe "in seinem Pulte ein Werk liegen, welches den Philosophen gewiß noch einmal großen Angstschweiß kosten werde". Da lachten die Herren und meinten: "Von einem Dilettanten [!] in der Philosophie sei so etwas schwerlich zu erwarten." Kraus sollte recht behalten. Der früher in der Gelehrtenrepublik einigermaßen angesehene Feder, der übrigens bis dahin mit Kant persönlich nicht schlecht gestanden hatte, erlitt durch die Kantische Revolution im allgemeinen, sein Verfahren mit der Garveschen Rezension im besonderen (oben S. 287), wie er selbst in seiner hinterlassenen Autobiographie sich ausdrückt, eine "Amputation" seines Autor- und Dozentenruhms. Die Zahl seiner Zuhörer sank auf ein Minimum; eine von ihm und Meiners 1788 gegen den Kritizismus gegründete 'Philosophische Bibliothek' fand keinen Absatz und ging nach wenigen Jahren ein, so dass er schließlich sein Lehramt an der Georgia Augusta aufgab und als Gymnasialdirektor nach Hannover zog. Sein Spezialkollege Meiners, der namentlich in seiner 'Philologie' (1787) Kants Lehre als puren Skeptizismus verdächtigt und ihm Sophistik vorgeworfen hatte, wurde von Kraus in der Literaturzeitung abgefertigt. Meiners "ganzes Räsonnement" lief, wie Lichtenberg witzig an Bürger schrieb, darauf hinaus: "Wenn Kant recht hätte, so hätten wir ja unrecht; da nun aber dieses nicht wohl sein kann, indem unser so viele gelehrte, tätige und rechtschaffene Männer sind, so ist sonnenklar, dass Kant unrecht hat. Q. e. d.*)."

Im Gegensatz zu diesen im alten philosophischen Betrieb erstarrten amtlich bestallten Fachphilosophen, waren die wirklichen Leuchten der Göttinger Hochschule der neuen Bewegung freundlich gesinnt. So zunächst der greise Mathematiker und Epigrammendichter Abraham Gotthelf Kaestner, der, 1719 geboren, freilich schon zu alt war, um noch völlig umzulernen und Kant nur riet, die rauhe Schulsprache mit einer populären zu vertauschen. Weiter der auch als Mensch liebenswürdig offene Naturforscher und Anatom Blumenbach, dessen Kant in seiner Kritik der Urteilskraft anerkennend gedenkt (vgl. S. 355). Ferner der Philologe Heyne. Und nicht zum wenigsten der berühmte Satiriker Lichtenberg, der ihn schon aus seinen vorkritischen Schriften kannte. Er nannte ihn den "Propheten aus dem Norden", der "mehr wisse als unsere heutigen Metaphysiker zusammengenommen", meinte nach dem Erscheinen der Kritik: "Das Land, das uns das wahre System der Welt (Kopernikus) gegeben hat, gibt uns noch das befriedigendste System der Philosophie"; und beschloß in dem allgemeinen Teil seines Physik-Compendiums "Kant gänzlich zu folgen". Als Jachmann im September 1790 dem kränklichen und verwachsenen Mann Kants Empfehlungsbrief überreichte, da strahlten dessen geistreiche und lebhafte Augen vor Freude, und er bot sich mit großer Wärme Jachmann und seinem Lehrer zu allen gewünschten Diensten an. Das gute Verhältnis zwischen beiden dauerte denn auch bis zu dem Tode Lichtenbergs (1799) fort. Der Königsberger schätzte des Göttingers satirische Ader und seine wissenschaftlichen Leistungen, und in des letzteren philosophischen Aphorismen ist der Einfluß Kants deutlich zu spüren.**) Noch am 1. Juli 1798 gibt dieser dem jungen Fahrenheid einen Empfehlungsbrief mit an den "verdienstvollen, mir besonders wohlwollenden, öffentlich mich mit seinem Beifall beehrenden und durch Beschenkung mit seinen belehrenden sowohl als ergötzenden Schriften zur Dankbarkeit verpflichtenden Herrn Hofrat Lichtenberg in Göttingen". Und Lichtenberg stattet ihm in einem zehn Wochen vor seinem Tode geschriebenen Briefe den herzlichsten Dank dafür ab, unter anderem mit den Worten, die wir während des Russeneinfalles in Ostpreußen August 1914 niederschreiben: "In Preußen gibts doch noch Patrioten. Dort sind sie aber auch am nötigsten. Nur Patrioten und Philosophen dorthin, so soll Asien wohl nicht über die Grenzen von Kurland vorrücken. Hic murus aheneus esto!" (L. an Kant, 9. Dez. 98.)

Als "erklärten Anhänger und Verteidiger" von Kants philosophischen Grundsätzen in Göttingen bezeichnet Jachmann in seinem großen Briefe vom 14. Oktober 1790 auch den noch jungen Dozenten Johann Gottlob Buhle, der jedoch mehr fleißiger Philosophie-Historiker als Selbstdenker und ohne jeden Einfluß war: "man hält eben nicht viel von ihm."

Noch fast gar nicht bekannt aber und in der ganzen fast unübersehbaren Kantliteratur unseres Wissens noch nirgends behandelt ist die interessante Tatsache, dass auch der damals als Professor an der Georgia Augusta wirkende berühmte Dichter G. A. Bürger nicht bloß für unseren Philosophen begeistert war, sondern sogar über ihn — gelesen hat! Bürger, der seit Herbst 1784 als unbesoldeter Professor Extraordinarius über Ästhetik und deutschen Stil las und dabei schon Kants Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen benutzt hatte, begann sich seit Frühjahr 1787 eingehender mit Kantischer Philosophie zu beschäftigen. Die Kritik der reinen Vernunft wurde nun sein "tägliches Erbauungsbuch"; sie erschien ihm wie eine Offenbarung, als "das wichtigste, was je in diesem Fache geschrieben worden ist". Auch hier tritt wieder der Gegensatz der jüngeren, lebensvolleren Generation zu den ausgefahrenen Gleisen der älteren zutage: "Die hiesige hochlöbliche philosophische Fakultät ist zwar anderer Meinung; das kommt aber daher, weil ein Mann wie Kant leicht dreißig solcher philosophischen Fakultäten zum Morgenbrot bei einer Tasse Thee aufzuschlingen im Stande ist." Sein Freund Boie fand ihn im Sommer 1787 "ganz in Kants Schriften vergraben, über die er im Winter lesen will". In der Tat las er im Wintersemester 1787/88 ein zweistündiges Publikum über 'Einige Hauptmomente der Kantischen Philosophie'; auf Lichtenbergs Rat gab er in dieser unentgeltlichen Vorlesung nur deren Umrisse in klarer und allgemeinverständlicher Sprache. So hatte er denn auch, während sein Hauptkolleg trotz aller Anstrengungen bloß zwölf, das Privatissimum seines berühmten Kollegen Heyne gar nur zwei Zuhörer anlockte, die Freude, die Hörerschar dieses Kantkollegs, in dem er mit Wärme über den "ersten Philosophen auf Erden" sprach, immer stärker bis über siebzig anwachsen zu sehen, "trotz der hiesigen antikantischen Katheder". Mag er auch nicht in die Tiefen Kantischen Denkens eingedrungen sein, und haben sein leidenschaftliches Temperament und seine dadurch herbeigeführten Lebensschicksale ihn auch an weiterer und ernsterer Beschäftigung mit der kritischen Philosophie gehindert, so ist er doch als einer der ersten hervorzuheben, die an deutschen Hochschulen über Kants Lehre gelesen haben. Kant selbst scheint keine Kunde davon bekommen zu haben; Jachmann hat während seines Göttinger Aufenthaltes Bürger — der freilich gerade damals sein 'Schwabenmädchen' freite — nicht besucht. Dieser hat übrigens noch für 1791/2 ein Kolleg über 'Die Lehre von den Quellen, dem Umfange und Gebrauche der menschlichen Erkenntnis nach Kant und anderen neueren Reformatoren der philosophischen Wissenschaften' angekündigt.

 

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*) Lichtenbergs Schriften ed. W. Herzog. Jena 1907. II, S. 312 f.

**) Vgl. a. a. O., I, S. 221 (Gott und Unsterblichkeit bloß Ideen), 224, 228 f., 231 f. (was wir von den äußeren Dingen wissen), 227 f. (Philosophie als Scheidekunst), 230 (Was heißt mit Kantischem Geiste denken ?), 242 (Religion = Moral).


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