Kritik der Urteilskraft


Die eben besprochene Abhandlung von 1788 deutet noch an keiner Stelle an, dass der Philosoph die Frage der Zweckmäßigkeit in der Natur und damit die methodische Begründung der organischen Naturwissenschaft in systematischem Zusammenhange zu behandeln beabsichtigt. Aber aus dem nämlichen Brief vom 28. Dezember 1787, in dem er Reinhold das Manuskript dieser Abhandlung zum Abdruck im 'Teutschen Merkur' übersandte, erfahren wir, dass inzwischen eine neue, grundlegende Einsicht in ihm herangereift ist. Nachdem er in der Kritik der reinen Vernunft die apriorischen Prinzipien des Erkenntnis-, in der soeben vollendeten Kritik der praktischen Vernunft die des Begehrungsvermögens festgestellt, habe er nunmehr — was er "sonst" für unmöglich gehalten — auch für das dritte der drei "Vermögen des Gemüts", nämlich das Gefühl der Dust und Unlust, ein Prinzip a priori entdeckt, und zwar in der — Teleologie, so dass er jetzt, statt der bisherigen zwei, drei Teile der Philosophie unterscheide: theoretische Philosophie, Teleologie und praktische Philosophie, von denen freilich der mittlere am "ärmsten an Bestimmungsgründen a priori" sei. Zunächst hatte er in diesem dritten Teile seiner Vernunftkritik nur die "Kritik des Geschmacks", d. h. das, was wir heute Ästhetik nennen, behandeln wollen. Nun aber fand er ein neues Grundprinzip, das auch die Probleme der Naturteleologie mitumfaßte, in dem mittleren der drei "oberen Erkenntnisvermögen": Verstand, Urteilskraft und Vernunft.

Die Urteilskraft, welche hier in Betracht kommt ist jedoch nicht mehr die aus der Kritik der reinen Vernunft bekannte, die einem gegebenen Allgemeinen (Regel, Prinzip, Gesetz) das Besondere unterordnet, von Kant jetzt bestimmende Urteilskraft genannt, sondern eine andere, "reflektierende" die zu einem gegebenen Besonderen das Allgemeine erst finden soll. Sie findet es im Prinzip der "formalen Zweckmäßigkeit", d. h. "die Natur wird so vorgestellt, als ob ein Verstand den Grund der Einheit des Mannigfaltigen ihrer empirischen Gesetze enthalte". Dies Prinzip umfaßt nun in gleicher Weise die einander anscheinend so wenig verwandten Gebiete der organischen Naturwissenschaft und der Kunst. Mit der "ästhetischen" Urteilskraft der letzteren, die wir erst im nächsten Kapitel behandeln werden, wurde verbunden die "teleologische" Urteilskraft der ersteren, die allenfalls auch — "dem theoretischen Teil der Philosophie ... hätte angehängt werden können" (Vorrede S. IX).

Nachdem der Philosoph sich einmal über diese inneren Zusammenhänge klar geworden war — er meinte bei dieser Gelegenheit, die Bewunderung und womöglich Ergründung des "Systematischen im menschlichen Gemüte" werde ihm Stoff genug für den Überrest seines Lebens bieten —, drängte es ihn, den Gedanken rasch zur Tat werden zu lassen, d. h. seine dritte Kritik nicht bloß rasch niederzuschreiben, sondern auch möglichst bald zu veröffentlichen. Der sonst in persönlichen Dingen so rücksichtsvolle Mann wählte sogar einen neuen, besonders leistungsfähigen Verleger, Lagarde in Berlin, dem er als "erste und vornehmste Bedingung" auferlegte, dass das Buch rechtzeitig zur Leipziger Ostermesse erscheinen müsse. Das umfangreiche Werk (LVIII und 477 Seiten) wurde denn auch wirklich recht schnell gedruckt: obgleich Kant den ersten Teil des Manuskripts erst am 21. Januar 1790, Vorrede und Einleitung gar erst am 22. März abgeschickt hatte, dankt Jakob in Halle schon am 4. Mai für das ihm von Lagarde zugesandte (anscheinend allerdings noch nicht ganz vollständige) und Salomon Maimon am 15. Mai für sein Dedikations-Exemplar. Und schon im Mai konnte sich Lagarde einem Briefe Kiesewetters, der die Korrektur besorgt hatte, an Kant zufolge "mit dem Absätze der Schrift sehr zufrieden" aussprechen.

Der zweite, uns hier allein beschäftigende, etwa zwei Fünftel des Ganzen einnehmende Teil des Werkes: die Kritik der teleologischen Urteilskraft, bedeutet nichts mehr und nichts weniger als die Einordnung auch der organischen Naturwissenschaft in das kritische System. Kant, der philosophisch von der Mathematik und mathematischen Naturwissenschaft herkam, ist es sicherlich nicht leicht geworden, die mechanisch-kausale Naturerklärung, wenn auch nur auf einem Teilgebiete der Naturwissenschaft zugunsten eines "Fremdlings" in derselben, des Zwecks, zu entthronen. Menzer macht auf ein um 1785 niedergeschriebenes 'Loses Blatt' (Reicke I, 137) aufmerksam, das dieser Stimmung deutlichen Ausdruck verleiht: "Ich habe auch bisweilen zum Versuch in den Golf gesteuert, blinde Naturmechanik hier zum Grunde anzunehmen, und glaubte eine Durchfahrt zum kunstlosen Naturbegriff zu entdecken; allein ich geriet mit der Vernunft beständig auf den Strand und habe mich daher lieber auf den uferlosen Ozean der Ideen gewagt". Er sah eben ein, dass die "kunstlose", d. i. rein mechanische Erklärung nicht zulange, um das Lebendige sicher zu erfassen, mindestens aber zu "beurteilen". Mögen wir die Entstehung des Flügels beim Vogel, der Flosse beim Fisch noch so schön mechanisch erklärt haben, wir verstehen sie erst, wenn wir wissen, welchen Zweck sie verfolgen, wie sie als Teile eines Ganzen wirken, so dass sie eben dessen Werkzeuge oder Organe werden, und zusammen mit ihm ein einheitliches Ganze, einen "Organismus" bilden. Es ist der neue Begriff des Zwecks, der hier eintritt und die Vernunft in eine "ganze andere Ordnung der Dinge", zu einer besonderen Art von Kausalität "oder wenigstens" zu einer "ganz eigenen Gesetzmäßigkeit" führt. Der Gedanke einer Verbindung der Natur nach Zwecken maßt sich nicht an, deren Erscheinungen zu erklären, sondern ist nur "ein Prinzip mehr", sie unter Regeln zu bringen, da wo das mechanische Kausalgesetz nicht mehr ausreicht. Er ist mithin, wie der Philosoph immer wieder einzuschärfen nicht müde wird, kein "konstitutives" Prinzip der Ableitung einer Wirkung von einer Ursache, sondern ein "regulatives" Prinzip der Beurteilung (§ 61), kurz eine Idee. Wir beobachten die Naturzwecke nicht eigentlich, sondern denken sie bloß hinzu. Das Individuum, das Organische überhaupt, geht eben nicht restlos in der Mechanik der Atome auf; ja Kant zufolge wird niemals ein Newton aufstehen, der "auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen" wird (§ 75). Und ein organisiertes Wesen hat nicht, wie eine Maschine, bloß bewegende, sondern bildende Kraft in sich. So erscheint schließlich die gesamte Natur als ein großes System von Zwecken, dem sich der Mechanismus unterordnen muß: freilich eben nur als einer Idee, einem Leitfaden, einer neuen Betrachtungsart (§ 67).

Überwunden werden durch diese kritische Fragestellung die vier dogmatischen Richtungen der Naturphilosophie: sowohl die, welche eine leblose Materie (Epikur, Demokrit) oder einen leblosen Gott (Spinoza), als die, welche eine lebende Materie ("Hylozoisten", d. i. Stoffbeseeler) oder einen lebendigen Gott (Theismus) als wirkende Naturkraft annehmen.

Trotzdem darf bei aller Notwendigkeit der teleologischen Ergänzung derjenige Gesichtspunkt nicht verdunkelt werden, "ohne den es keine Naturwissenschaft geben kann": der mechanisch-kausale. Kant erklärt es ausdrücklich für "vernünftig, ja verdienstlich", bei der Erklärung von Naturprodukten dem "Naturmechanism" soweit nachzugehen, als es immer "mit Wahrscheinlichkeit geschehen kann" (§ 86), und als es immer in unserem Vermögen steht, dessen "Schranken wir innerhalb dieser Untersuchungsart nicht angeben können" (§ 78, Schluß). Die größtmögliche Bestrebung, ja Kühnheit in derartigen Versuchen mechanischer Erklärung ist nicht allein erlaubt, sondern wir sind sogar "durch die Vernunft dazu aufgerufen" (§ 82). Denn beide Arten der Erzeugung, die mechanische und die nach dem Gesichtspunkte der Zweckmäßigkeit, widersprechen sich nur in unserer menschlichen Vorstellungsart (§ 82, Schluß, § 80, Anhang); dagegen bleibt unausgemacht: ob nicht "in dem uns unbekannten inneren Grunde der Natur selbst die physisch-mechanische und die Zweckverbindung an denselben Dingen in einem Prinzip zusammenhängen mögen" (§ 70, Schluß).


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