4. Die Überwindung der alten Metaphysik
(Ideenlehre)


Mit der Feststellung der Kategorien und der 'Grundsätze' ist die Zergliederung ('Analytik') der reinen Vernunft abgeschlossen, das Reich der Erfahrung konstituiert. Wenn der Philosoph erklärt (Kr. 313): "Der Verstand stellt uns die Gegenstände vor, wie sie als Gegenstände der Erfahrung im durchgängigen Zusammenhang der Erscheinung müssen vorgestellt werden," so ist eben dieser "durchgängige Zusammenhang" das, was die Wissenschaft ausmacht. Man kann wahrlich das Gefühl freudigen Stolzes begreifen, mit dem Kant im § 31 seiner Prolegomena die Worte niederschrieb: "Und so hat man denn einmal etwas Bestimmtes, und woran man sich bei allen metaphysischen Untersuchungen, die bisher kühn genug, aber jederzeit blind über alles ohne Unterschied gegangen sind, halten kann." Mochten auch "dogmatische Denker" das Ziel seiner Bemühungen zu "kurz" ausgesteckt finden: er hatte dadurch der Philosophie ein sicheres Gebiet gerettet. Freilich über das Feld der Erfahrung hinaus — das wird er nicht müde, immer wieder einzuschärfen — haben die Begriffe des reinen Verstandes keine Bedeutung: "sie dienen" vielmehr, wie er in einem hübschen Bilde sagt, "gleichsam nur, Erscheinungen zu buchstabieren, um sie als Erfahrung lesen zu können" (ebd. § 30).

Nun könnte man vielleicht meinen, mit dieser seiner Begründung der "Erfahrung", d. i. Wissenschaft, hätte Kant sein Werk abschließen können, um sich, wie es der moderne Positivismus tut, mit der gegebenen Welt zu begnügen. Allein Kant ist eben kein Positivist. Er hat vielmehr "das Schicksal, in die Metaphysik verliebt zu sein". Philosophie bedeutet ihm mehr als bloße Grundlegung von Mathematik und mathematischer Naturwissenschaft, sie ist ihm "die Wissenschaft von der Beziehung aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft" (Kr. 867), die dem Menschen nie und nimmer gleichgültig sein können. "Der Mathematikus, der schöne Geist, der Naturphilosoph: was richten sie aus, wenn sie über die Metaphysik übermütigen Spott treiben? In ihrem Inneren liegt der Ruf, der sie jederzeit auffordert, in das Feld derselben einen Versuch zu tun. Sie können, wenn sie als Menschen ihre letzten Zwecke nicht in Befriedigung der Absichten dieses Lebens suchen, nicht umhin zu fragen: Woher bin ich? Woher ist das Ganze?" So schrieb er in sein philosophisches Tagebuch, die 'Reflexionen' (herausg. von Erdmann II, Nr. 128). Und im Anhang der Prolegomena: "Mathematik, Naturwissenschaft, Gesetze, Künste, selbst Moral usw. füllen die Seele noch nicht gänzlich aus; es bleibt immer noch ein Raum in ihr übrig, der für die bloße reine und spekulative Vernunft abgestochen ist" (S. 160). Unser Philosoph ist mithin im letzten Grunde kein Feind, sondern ein Freund der Metaphysik.

Wie sehr er gerade den ihm am nächsten stehenden Schülern als ein solcher galt, davon gibt einen überzeugenden Beweis der an ihn gerichtete Brief des Marcus Herz vom 9. Juli 1771. Wie aufgeregt ist er, dem Kant "bei so mannigfaltiger Gelegenheit den Wert der Metaphysik so sehr anpries", über eine Nachricht, die sein Freund Friedländer aus Königsberg mitgebracht: Kant habe die "spekulative Weltweisheit" für eine "nutzenlose Grübelei" erklärt, die nur "von einigen Gelehrten in den Studierstuben verstanden wird"; das einzige einem Gelehrten angemessene Studium sei die Moral für den gemeinen Mann usw. Nun, schon der nächste Brief des verehrten Lehrers zeigte ihm, wie tief dieser mit "metaphysischen", d. h. philosophischen Untersuchungen über die Grenzen der Erkenntnis beschäftigt war. Was Kant mit jenen Herz so unphilosophisch in die Ohren klingenden Äußerungen gemeint hatte, war nichts anderes als der Gedanke, den wir noch deutlicher in seiner Ethik ausgedrückt finden werden: dass das "Interesse der Menschen" dem "Monopol der Schulen" entgegengesetzt sei (2. Vorr. z. Kr., S. XXXII). Unser Kritiker erklärt vielmehr nur jener von uns schon mehrfach charakterisierten alten Metaphysik der "Schulen" den Krieg, die sich durch ihre Tändelei oder Schwärmerei um allen Kredit gebracht hat. Ihr gegenüber gilt es, eine neue, wahrhafte Philosophie des "Unbedingten" aufzurichten. Freilich, eine solche Metaphysik "ist nicht für Kinder und Jünglinge, sondern für Männer"; denn "sie ist eine Art von Revision der Vernunft", und "man muß die vorhandene schon kennen, um ihre Gültigkeit schätzen zu können" (Refl. II, 173).


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