3. Die Begründung der "reinen" (mathematischen) Naturwissenschaft
Die Zeitvorstellung leitet unmittelbar über zur "reinen Mechanik" oder "allgemeinen Bewegungslehre", die ja "ihre Begriffe von Bewegung nur vermittelst der Vorstellung der Zeit zustande bringen kann" (Prol. § 10) und ihrerseits den Zusammenhang der Mathematik mit der Physik vermittelt. Wie über Mathematik, so hat auch über theoretische Physik Kant als Magister häufig, nicht weniger als 15mal, gelesen; dazu noch zweimal über die "mechanischen Wissenschaften": Mechanik, Hydrostatik, Hydraulik und Aerometrie. Seit Antritt seiner ordentlichen Professur las er allerdings das Physik-Colleg seltener, hat es jedoch immerhin zwischen 1776 und 1788 noch sechsmal wiederholt; anscheinend, ohne jemals Experimente hinzuzufügen. Physikalische Probleme überhaupt haben ihn offenbar bis an sein Lebensende beschäftigt, wie nicht zum wenigsten das bei seinem Tode unvollendet gelassene Nachlaßwerk über den 'Übergang von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik' beweist. Und zwar — das ist auch aus seinem von Adickes (Bd. XIV der Akad.-Ausg.) veröffentlichten Nachlaß zu ersehen — Probleme aus allen Gebieten: der allgemeinen Physik und der Mechanik so gut wie der Optik und Akustik, der Licht- und Wärmetheorie wie des Magnetismus und der Elektrizität. Hier geht er vielfach eigene Wege. So zeigt er sich durchaus nicht schlechtweg von Newton abhängig. Während er ihm in der Optik im wesentlichen treu bleibt, huldigt er in der Akustik Eulers Undulationstheorie; ja er versucht eigene und neue Erklärungen der Wärme und des Magnetismus durch gewisse Eigenschaften eines durch die ganze Natur verbreiteten Stoffes zu geben. Manche Einzelheiten sind noch für den heutigen Naturforscher als geistvolle Vorahnungen von Interesse. Dass er sich auch für die Anwendungen in der Praxis interessierte, zeigt die erhaltene Korrespondenz mit seinem physikalischen Kollegen Reusch über die Anlage eines Blitzableiters an einer Königsberger Kirche.
Von seinen Schriften gehören diesem Gebiete an die schon in Buch I besprochenen vorkritischen: De igne (1755), Monadologia physica (1756) und 'Neuer Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe' (1758): auch sie nicht eigentliche Fachschriften, sondern die philosophische Seite der Sache behandelnd. Zu einer zusammenfassenderen Arbeit: 'Metaphysische Anfangsgründe der natürlichen [d. h. hier = auf die Natur sich beziehenden] Weltweisheit' hatte er schon 1765 "den Stoff fertig liegen" (an Lambert, 31. Dez. 1775). Aber erst Ostern 1786, also volle 20 Jahre später, ist sie erschienen. Ehe wir jedoch den Inhalt dieser für die Kenntnis von Kants allgemein-physikalischen Ansichten wichtigsten naturphilosophischen Schrift berühren, müssen wir uns über die allgemeine philosophische Begründung der mathematischen Naturwissenschaft und ihre Stelle im kritischen Systeme klar werden.
Mechanik und Dynamik zusammen heißen, nach dem Sprachgebrauch der Zeit von Newton her, bei Kant: reine oder mathematische Naturwissenschaft. Deren Grundbegriffe und allgemeine Voraussetzungen festzustellen, reicht jedoch die Formenlehre der reinen Anschauung, also die transzendentale Ästhetik, nicht aus. Anschauungen ohne Begriffe sind "blind". Es muß die Lehre vom Erkennen, von den Begriffen des Verstandes, m. a. W. die transzendentale Logik hinzukommen. "Transzendental" nennt Kant, wie bei dieser Gelegenheit bemerkt sein mag, "alle Erkenntnis, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, sofern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt"; entsprechend seiner Voraussetzung, dass die sogenannten "Gegenstände" in Wirklichkeit nur Vorstellungen von Gegenständen sind. In die bunte Mannigfaltigkeit der bloßen Sinneseindrücke kommt Einheit erst durch eine von Kant "Synthesis" (Zusammenfassung) genannte selbsttätige Handlung unseres Verstandes, die ihren letzten Grund in unserem Selbstbewußtsein, d. i. dem Bewußtsein von der Einheit unseres Bewußtseins, findet. Aus ihr, der "ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption", als dem "höchsten Punkt, an den man allen Verstandesgebrauch, selbst die ganze Logik und nach ihr die Transzendental-Philosophie heften muß", fließen, von den Urteilsformen abgeleitet, die "Stammbegriffe des reinen Verstandes", von unserem Philosophen mit dem aristotelischen Namen "Kategorien" bezeichnet.
Für die schwierigste Aufgabe der ganzen Kritik hat der Verfasser selbst die "Deduktion" dieser zwölf Kategorien — Namen und Einteilung findet der Leser in jeder Geschichte der Philosophie — erklärt. Hier sei nur so viel gesagt, dass der Philosoph es nicht als seine Aufgabe ansieht, dieselben nach der Weise von Locke und Hume aus den "Gelegenheitsursachen ihrer Erzeugung in der Erfahrung" herzuleiten. Die an Stelle solcher "empirischen" gegebene "transzendentale" Deduktion gründet sich vielmehr auf die Tatsache der wissenschaftlichen Erkenntnisse, die in der "reinen Mathematik" und "allgemeinen Naturwissenschaft" unbestritten vorliegen. Indem nun die Kategorien oder "reinen Verstandesbegriffe" die von den Sinnen gegebene "Erscheinung" zum gedachten "Gegenstande" erheben, erweisen sie sich als die "formalen Bedingungen", der "Leitfaden" oder "Schlüssel" der gesamten Erfahrung (Wissenschaft), die durch sie überhaupt erst möglich wird.
Allein sie würden "leer", "bloße Gedankenformen" ohne Inhalt und Bedeutung bleiben, falls sie nicht ihrerseits auf die Anschauungen angewandt würden. Will sich das Denken zum Erkennen vertiefen, so muß es anschaulich werden; will ich z. B. eine Linie erkennen, so muß ich sie ziehen. Die Kategorien erfüllen sich mit Inhalt erst in den Grundsätzen, auf die alles Vorige nur die Vorbereitung darstellt. Bildeten die formalen Bedingungen aller Urteile ein logisches, die darauf gegründeten reinen Verstandesbegriffe ein "transzendentales" System, so machen die Grundsätze das System der Natur aus, "welches vor aller empirischen Naturerkenntnis vorhergeht, diese zuerst möglich macht und daher die eigentliche allgemeine und reine Naturwissenschaft genannt werden kann" (Proleg. § 23). Die beiden ersten, "mathematischen" Grundsätze betrachten die Erscheinungen als "extensive", d. h. ausgedehnte, und "intensive", d. h. Grad-Größen; die folgenden, "dynamischen" bestimmen die Gegenstände physikalisch als beharrende Substanzen, sich verändernd nach dem Gesetz von Ursache und Wirkung (Kausalität) und in ihrer durchgängigen Wechselwirkung. Die drei letzten fügen, als "Postulate" alles Erfahrungsdenkens, dem Vorigen noch drei methodisch wichtige wissenschaftliche Wertbestimmungen hinzu: Möglich ist, was mit den formalen Bedingungen der Erfahrung (Anschauungen und Begriffen) übereinkommt; wirklich: was mit ihren materialen Bedingungen (der Empfindung) zusammenhängt; notwendig: wessen Zusammenhang mit dem Wirklichen nach allgemeinen Bedingungen der Erfahrung bestimmt ist.