3. Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte
Denn augenscheinlich war es Herders ausführliches Eingehen auf die älteste Schrifttradition über den Ursprung und Anfang der Menschengeschichte, die unseren Kritiker reizte, sich auch einmal mit einer Deutung der ersten Kapitel Mose zu versuchen. Freilich in ganz anderer Art. Im Gegensatz zu Herders gehobenfeierlichem Ton will Kant seine "Mutmaßungen" keineswegs "für ein ernstes Geschäft ankündigen", sondern sie bloß als "eine der Einbildungskraft in Begleitung der Vernunft zur Erholung und Gesundheit des Gemüts vergönnte Bewegung" betrachtet wissen; er will eine bloße "Lustreise" wagen, bei der er sich einer heiligen Urkunde als Karte bedient. Er läßt Herders Ausführungen über das Alter der Erde, den Unterricht der "Elohim" und die Lage des Paradieses ganz beiseite und beginnt sogleich mit der sittlichen Entwicklung des Menschengeschlechts (1. Mose 2—4). Die alttestamentliche Erzählung dient ihm nur als Unterlage einer ganz freien Darstellung. So bedeutet ihm die Vertreibung aus dem Paradiese "in die weite Welt" keineswegs eine Strafe, sondern den Übergang aus der "Rohigkeit" eines "bloß tierischen", vom "Gängelwagen" des Instinkts geleiteten Geschöpfs zur Leitung der Vernunft, aus der "Vormundschaft der Natur" in den "Stand der Freiheit". An Mose 1, 4 knüpft er eine Schilderung der einander folgenden Anfangsstufen der Kultur (Jägerleben, Hirtenleben, Ackerbau) bis zu den Anfängen von städtischer Kultur, Kunst und vor allem "bürgerlicher Verfassung". Auch zeigen sich bereits wichtige Gedanken der neuen Ethik: vom wahren Wert des Lebens, vom Menschen als Selbstzweck. Wie wenig "rigoristisch" Kant in Wahrheit denkt, geht aus dem Satze hervor: "die Natur hat gewiß nicht Instinkte und Vermögen in lebende Wesen gelegt, damit sie solche bekämpfen und unterdrücken sollten." Bedeutsam und von hohem Interesse ist die in Anknüpfung an Rousseau erfolgende Entgegensetzung von Natur und Kultur, namentlich aber der Gedanke ihrer dereinst zu hoffenden Vereinigung, wo "vollkommene Kunst wieder Natur wird, als welches das letzte Ziel der sittlichen Bestimmung der Menschengattung ist". Traurig sind die mit der Kultur verbundenen Übel: so z. B" dass der Kulturmensch erst so spät heiraten und sein Geschlecht fortpflanzen kann, dass er sterben muß, wenn er noch so viel zu leisten imstande, ja vielleicht "am Rande der größten Entdeckungen steht", dass die Ungleichheit der Menschen nicht bloß in bezug auf Naturgaben oder Glücksgüter, sondern auch auf ihr allgemeines Menschenrecht durch die Kultur nicht zu lösen ist, so lange dieselbe — so "planlos" fortgeht. Allein der Mensch darf und soll bei seiner an sich sehr erklärlichen Unzufriedenheit, mit diesen Übeln und Mühseligkeiten, wozu vor allem auch der Krieg gehört, nicht stehenbleiben. Auch sie haben ihr Gutes, zumal er erkennen muß, dass er zum großen Teil selbst daran schuld ist. Man soll diesem Leben, dessen überlange Fortdauer doch nur die "Verlängerung eines mit lauter Mühseligkeiten beständig ringenden. Spiels" sein würde, durch Handlungen neuen Wert geben. Dann wird man nicht mehr jene leere Sehnsucht nach einem in bloßem Genusse verträumten oder vertändelten "goldenen Zeitalter" empfinden. Man wird erkennen, dass die Geschichte der Menschheit nicht vom Guten zum Bösen fortgeht, sondern eine allmähliche Entwicklung vom Schlechten zum Besseren durchmacht, und dass zu diesem Fortschritt "ein jeder an seinem Teile, soviel in seinen Kräften steht, beizutragen durch die Natur selbst berufen ist".
Wie durch ein Stahlbad gestärkt fühlt man sich, wenn man nach der weichmachenden Gefühlsmäßigkeit Herderscher Gedanken diese kraftvollen und männlichen Kantischen Ideen in sich aufnimmt. Kein Wunder, dass Anhänger Kants, wie Biester, sie für ein Stück erhabenster und edelster Philosophie erklärten, die "wahrhaft erbaut und die Seele erhebet" (an Kant, 8. Nov. 85). Selbst Hamann konnte nicht umhin, nach der Lektüre von Kants Aufsatz, am 15. Januar, an Jacobi zu schreiben, dass an dieser "allerliebsten Seifenblase von unserem Kant" auch Herder sich "sehr erbauen" werde. Und an den letzteren: hier sei der gewünschte Newton der Geschichtsphilosophie im Keime vorhanden. Der gekränkte Herder aber fühlte sich nicht "erbaut", sondern wandte sich, wie wir sehen, endgültig von Kant ab.
Einen um so tieferen Eindruck machte die geistreiche Abhandlung auf Schiller. Als der neuernannte Jenaer Professor im Sommer 1789 seine Vorlesungen über Universalgeschichte begann, legte er seiner Darstellung der ältesten Zustände der Menschheit Kants Aufsatz zugrunde. Und gerade dieser Abschnitt erschien ihm so wertvoll, dass er ihn unter der Überschrift: 'Etwas über die erste Menschengesellschaft' im 11. Hefte seiner 'Thalia' von 1790 veröffentlichte, mit der beigefügten ausdrücklichen Bemerkung: "Es ist wohl bei den wenigsten Lesern nötig zu erinnern, dass diese Ideen auf Veranlassung eines Kantischen Aufsatzes in der Berliner Monatsschrift entstanden sind." In der Tat stellen namentlich die ersten Seiten fast nur eine Umschreibung von Kants Gedanken dar, während die folgenden Abschnitte — wo es geht, im Anschluß an die biblische "Urkunde" — die Urzustände der Menschheit in selbständigerer Weise mit poetischem Pinsel malen.