Halle: Jakob, Beck, Bahrdt
Wie in Jena, so vermochte auch in Halle das ältere Gelehrtengeschlecht in die von ihm verlangte Gedankenumwälzung sich nicht mehr zu finden. "Man kann die Kantische Philosophie in gewissen Jahren ebensowenig lernen wie das Seiltanzen", wie der witzige Lichtenberg meinte. Im Gegensatz zu dem schon im dritten Kapitel von uns behandelten Wolffianer Eberhard und seinem Gesinnungsgenossen Maaß, der ebenfalls gegen die kritische Philosophie schrieb, traten dagegen mehrere jüngere Dozenten mit Feuereifer für dieselbe ein. Einem derselben, dem uns bereits bekannten jungen Gymnasiallehrer und Magister L. H. Jakob (geb. 1759), schrieb denn auch unser Denker: Es liege in der Natur der Menschen, bei einem Wahne, in dem sie alt geworden, möglichst lange zu verharren, und man könne nur "von jungen, kraftvollen Männern erwarten, dass sie sich davon loszumachen Denkungsfreiheit und Herzhaftigkeit genug haben werden" (K. an J., 26. Mai 86). Freilich entsprach der rührige, aber geistig wenig bedeutende Jünger später den auf ihn gesetzten Hoffnungen nicht. Er wirkte zwar, unterstützt durch die damals noch am Ruder befindlichen Minister von Zedlitz und Hertzberg, in Vorlesungen und Schriften eifrig für die Sache des Kritizismus, mit dessen Begründer er in regem Briefwechsel blieb, gründete auch zu seiner Verbreitung die 'Philosophischen Annalen', erwies sich aber mehr und mehr als ein Typus jener unselbständigen Kantianer, welche die kritische Philosophie schließlich in Verruf brachten, ohne eigene Gedanken und weitschweifigledern im Stil. Dazu ein Vielschreiber, der z. B. in einem Winter eine Logik und Metaphysik, eine empirische Psychologie und einen 'Moralischen Beweis des Daseins Gottes' zusammenschrieb. Auf ihn war, außer einer Reihe noch derberer, das berühmte Xenion der Weimarer Dioskuren gemünzt: "Wenn die Könige baun, haben die Kärrner zu tun."
Geistvoller und selbständiger war der junge Jakob Sigismund Beck (geb. 1761), ein Westpreuße von Geburt, der zu Kants Füßen gesessen hatte und, mit einem Empfehlungsschreiben desselben versehen, nach Leipzig, von da 1790 nach Halle ging. Seine Ostern 1791 dort aufgenommene Vorlesung über Mathematik gewann freilich nur acht Zuhörer, die noch dazu "wahrscheinlich mir nichts bezahlen werden", während sich zu der angekündigten philosophischen Vorlesung überhaupt niemand meldete; um sich wirtschaftlich durchzuhelfen, nahm er daher gleichzeitig eine Lehrerstelle an dem bekannten Pädagogium an. Kant suchte den begabten jungen Mann durch Zuwendung von literarischen Arbeiten zu unterstützen. Über den von Beck beabsichtigten Auszug aus des Meisters kritischen Schriften entspann sich dann ein durch die Jahre 1790—94 sich hindurchziehender Briefwechsel zwischen beiden, der nicht ohne philosophisches Interesse ist.
Weit loser war die Verbindung mit dem seit 1779 ebenfalls in Halle lebenden radikalsten, aber auch skandalsüchtigsten und leichtsinnigsten enfant terrible der deutschen Aufklärung: Karl Friedrich Bahrdt (1741—92), der, wegen seiner freien Ansichten aus seiner Gießener Theologie-Professur entlassen, in Graubündten und der Pfalz Philanthropine geleitet hatte und nun in der Saalestadt als origineller Redner, gewandter Schriftsteller und in seinen letzten fünf Lebensjahren auch — Schenkwirt fungierte. Kant hatte in den 70er Jahren wegen seiner philanthropinistischen Bestrebungen ein gewisses Interesse für ihn gehabt. Als ihm Bahrdt jetzt (Ende 1786) sein .System des reinen Naturalismus' in der Religion zusandte und um seine Freundschaft warb, hielt er sich doch ziemlich zurück und schrieb ihm nur, er würde das Buch gern empfehlen, falls es ebenso wie Bahrdts früheres 'Sittenbuch fürs Gesinde' geschrieben sei, in dem "ohne alle unnötige Einmischung von Mutmaßungen über die Geschichte, der Geist der christlichen Religion hell und praktisch vorgestellt wird". Immerhin brachte ihm Jachmann von seiner Reise aus Halle Herbst 1790 nicht bloß von Beck, Jakob, Forster und dem berühmten liberalen Theologen Semler, sondern auch von dem "Dr. und jetzigen Bierschenk" Bahrdt viele Empfehlungen mit.
Bahrdt war auch der ungenannte Stifter einer geheimen Verbindung der 'Deutschen Union' oder des 'Ordens der 22er" der seinen im Dezember 1787 erlassenen Aufruf "an die Freunde der Vernunft, der Wahrheit und der Tugend" zur Bildung eines Bundes, um "die Aufklärung und Bildung der Menschheit zu befördern und alle bisherigen Hindernisse derselben nach und nach zu zerstören" auch an Kant sandte. Manche von den in Aussicht genommenen praktischen Zielen, wie die Verbindung der freigesinnten Schriftsteller zu einem unabhängigen Verlag, die Gründung von Lesegesellschaften und dergleichen, waren vielleicht unserem Denker nicht unsympathisch; aber der Plan, Einfluß auf Familien und Regierungen, wie auf die Besetzung von Hofmeister-, Sekretär-, Pfarrerstellen u. a. zu gewinnen, war doch recht bedenklich, und gar die Abhängigkeit von geheimen Oberen (die allerdings in jenem Zeitalter der Illuminaten, Rosenkreuzer usw. an der Tagesordnung war), hat gewiß allein schon genügt, um Kant, den grundsätzlichen Gegner geheimer Gesellschaften, von jedem Gedanken an den Beitritt abzuhalten. Übrigens verlor man, als ruchbar wurde, dass Bahrdt an der Spitze des Unternehmens stehe, bald das Vertrauen zu der 'Taler'-Union (um die Korrespondenzkosten zu decken, war ein im voraus zu entrichtender Taler Beitrag gefordert), und als der Unternehmer gar deswegen in Untersuchung gezogen ward, gingen die schwachen Anfänge des Bundes völlig auseinander.