Viertes Kapitel
Kant und die organische Naturwissenschaft

1. Die Entstehung des Organischen


Wie hoch Kant die mathematische Naturwissenschaft als "reine", "eigentliche", allein exakte Wissenschaft auch schätzt, so klar war es ihm doch von Anfang an, dass sie nur einen Teil der gesamten Naturwissenschaft umfaßt, dass sie das Problem des Lebens, die Entstehung und Entwicklung des Organischen nicht berührt. Und zwar erkannte er schon früh nicht bloß die Verschiedenheit, sondern auch die größere Schwierigkeit des biologischen Problems. Über die Entstehung der Himmelskörper hatte er in seiner 'Allgemeinen Naturgeschichte usw.' (1755) das kühne Wort ausgesprochen: "Gebt mir nur Materie, ich will Euch eine Welt daraus bauen!" Betreffs der organischen Welt gestand er an derselben Stelle bescheiden seine Ohnmacht ein, auch nur "die Erzeugung eines einzigen Krauts oder einer Raupe aus mechanischen Gründen deutlich und vollkommen kund" machen zu können. Während Epikur und andere alte Denker die "Ungereimtheit" soweit getrieben hätten, den Ursprung aller belebten Geschöpfe dem "blinden Zusammenlauf" der Atome beizumessen und so "die Vernunft aus der Unvernunft" herzuleiten, so bleibe man auf dem Felde des Organischen "aus Unwissenheit der wahren inneren Beschaffenheit des Objekts und der Verwickelung der in demselben vorhandenen Mannigfaltigkeit" gleich beim ersten Schritte stecken. Aber er meinte damals von der "Grundmaterie" noch: eben weil sie eine "unmittelbare Folge des göttlichen Daseins" sei und ihre Eigenschaften und Kräfte allen Veränderungen zugrunde lägen, müsse sie "auf einmal so reich, so vollständig" sein, dass die "Entwicklung ihrer Zusammensetzungen" alles in sich schließe, "was sein kann" (119).

Dagegen werden im 'Einzig möglichen Beweisgrund' (1763) die physikalischen und die biologischen Gesetze bereits scharf voneinander geschieden. Erstere weisen eine notwendige, letztere dagegen nur "zufällige", künstliche Einheit auf. Selbst die Vereinigung verschiedener solcher Einheiten zu einem in seiner Art vollkommenen Ganzen, z. B. einer Pflanze, ist bloß zufällig und willkürlich. Freilich möge auch hier mehr "notwendige" Einheit sein, "als man wohl denkt" (I, 3. Betrachtung). Wie denn überhaupt die Methode der "gereinigten Weltweisheit" mit Newton den Grundsatz der Einheit der Natur so sehr wie möglich festhalten müsse (vgl. Buch II, Kap. 1, Schluß). Trotzdem erweisen sich die allgemeinen, d. h. physikalischen Naturgesetze zur Erklärung des Baues der Pflanzen und der Tiere als unzulänglich. Die Bildung der Schneekristalle lasse sich allenfalls noch mechanisch erklären, und der Pflanzenschimmel stehe in der Mitte zwischen Leblosem und Lebendem. Wie aber steht es mit der ersten Erzeugung des Organischen, einer Pflanze oder eines Tieres? Ist jedes einzelne Individuum unmittelbar von Gott gebaut und nur die Fortpflanzung dem natürlichen Gesetz der Entwicklung anvertraut (Evolutions- oder Präformations-Theorie)? Oder sind nur einige Individuen unmittelbar göttlichen Ursprungs, die dann "nach ordentlichen Naturgesetzen" ihresgleichen erzeugen und nicht bloß "auswickeln" (Theorie der Epigenesis)? Kant selbst will sich für keine der beiden, zu seiner Zeit eine bedeutende Rolle in der öffentlichen Diskussion spielenden Theorien, die zudem beide das Problem nur auf Gott zurückschoben, entscheiden. Bei dem derzeitigen Stand der Kenntnisse sei eine Anwendung rein mechanischer Gesetze auf das Organische unmöglich. Indes müsse der Natur eine größere Möglichkeit eingeräumt werden, "nach allgemeinen Naturgesetzen ihre Folgen hervorzubringen".

Die 'Träume eines Geistersehers' (1766) erklären es für schwer, den Unterschied zwischen Leblosem und Lebendem, d. i. willkürlich sich Bewegendem, im einzelnen Falle mit Sicherheit auszumachen. Desgleichen sei der Unterschied zwischen Tier und Pflanze — man denke etwa an den Polypen — nur relativ. Am besten halte sich die Naturwissenschaft an die uns allein begreiflichen "Bewegungsgesetze der bloßen Materie", wenngleich der Philosoph nicht leugnen will, dass in vielen Fällen tierische Veränderungen "organisch" zu erklären sind.


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