Chemie


Damit kommen wir zu der von unserem Philosophen im letzten Jahrzehnt seines Lebens besonders eifrig getriebenen Chemie. Obwohl sie nur zum Teil dem Gebiete der organischen Naturwissenschaft angehört, obwohl die intimere Beschäftigung mit ihr erst in seine Altersjahre fällt, berühren wir sein Verhältnis zu ihr doch schon hier, weil es vielleicht das deutlichste Bild seines persönlichen Verhältnisses zur Naturwissenschaft überhaupt gibt. Interesse für die Probleme der Chemie war bei ihm von früh an vorhanden. Behandelten doch die Dissertationen De igne (1755) sowie die Monadologia physica (1756) naturphilosophische Fragen, die mit chemischen Vorgängen aufs engste zusammenhängen. Und Bilder aus der chemischen Praxis hat er zeitlebens gern zu Gleichnissen in seinen philosophischen Schriften benutzt. Aufgewachsen war er natürlich in den chemischen Anschauungen seiner Zeit. Die damaligen physikalisch-chemischen Lehrbücher aber, z. B. auch das von Erxleben, das Kant seinen physikalischen Vorlesungen zugrunde zu legen pflegte, gaben nichts anderes als eine Sammlung von Tatsachen über die chemische Zusammensetzung von Körpern nebst einer groben, nach ganz äußerlichen Merkmalen getroffenen Einteilung derselben in Metalle, Salze, Säuren, Harze usw. Da, wo ein tieferes Eindringen überhaupt versucht wurde, lagen vielfach falsche oder ungenaue Beobachtungen zugrunde. Die neue Auffassung des Engländers Boyle war in Deutschland kaum bekannt, geschweige denn durchgedrungen. Man hielt sich im wesentlichen noch an die alte halb aristotelische, halb parazelsische Qualitätenlehre. Die Phlogiston-Theorie des berühmten Stahl (1660—1734) beherrschte das Feld. Von einer quantitativen Chemie im heutigen Sinne war noch keine Spur vorhanden. So war es denn durchaus gerechtfertigt, wenn Kant in der Vorrede zu seinen Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft (1786) die damalige Chemie eher als "eine systematische Kunst oder Experimentallehre" denn als Wissenschaft im eigentlichen Sinne ansehen wollte: weil sie der mathematischen Behandlung unzugänglich sei. Neuerdings bekannt gewordene Nachlaß-Notizen und (freilich weniger beweiskräftige) Kollegnachschriften aus der Mitte der 80er Jahre beweisen nach dem Zeugnisse eines Fachmannes (Ellinger), dass er das damals vorliegende "Tatsachenmaterial in hohem Grade beherrscht", sowie, dass er "die chemischen Theorien mit erkenntnis-theoretischen Resultaten zu verknüpfen sucht". Aber er steht noch im Banne Stahls, den er noch in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik (1787) als maßgebend auf diesem Gebiete betrachtet. Ja, noch 1793 bestreitet er Lavoisiers neue Lehre von der Zusammengesetztheit und Zerlegbarkeit des Wassers: kein Wunder, wenn wir bedenken, dass auch Männer wie Priestley und Scheele, die Entdecker des Sauerstoffs, sich gegen die neuen Anschauungen des großen Franzosen sperrten. Kurz nachher aber wurde er, anscheinend durch seinen Freund und Kollegen Karl Gottfried Hagen (s. Kap. 8), für das System Lavoisiers gewonnen, denn in einem Brief an Sömmerring vom August 1795 steht er bereits auf dem Boden von dessen Lehre, dass "das bis vor kurzem noch für ein Element gehaltene Wasser in zwei verschiedene Luftarten geschieden sei".

Seitdem machte er "nicht allein den Hauptstoff seiner Gespräche daraus", sondern "zeichnete auch alle diejenigen, besonders Herrn Prof. Hagen, sehr aus, welche seinen Heißhunger nach neuen chemischen Entdeckungen zu befriedigen vermochten"*). Freilich die bald darauf folgenden Entdeckungen Richters, paltons und Berthollets, die ihn überzeugt hätten, dass die Chemie in der Tat mathematischer Behandlung fähig sei, hat er nicht mehr kennen gelernt. Dagegen bezeugt sein jetzt von Adickes neu herausgegebener Nachlaß, dass er sich gerade in den 90er Jahren vielfach Auszüge aus chemischen und naturwissenschaftlichen Werken gemacht hat.**) Und die letzterhaltene Niederschrift überhaupt, aus dem Jahre 1800, also des 76 jährigen, betrifft ebenfalls ein chemisches Experiment: die Schmelzbarkeit des Platins, wenn es mit Kupferfeile vermengt wird. Ja, noch in seinem allerletzten Lebensjahre gab er über chemische Gegenstände noch überraschend richtige Antworten (Wasianski, S. 198).

Das Sonderbare und überaus Charakteristische ist nun, dass der große Theoretiker trotz dieses eifrigen Interesses selber, soviel wir wissen, nie ein chemisches Experiment gemacht hat, sondern sich in solchen Fällen, wie man aus den beiden im April 1800 mit Hagen gewechselten Briefen sieht, an seinen Kollegen, den Praktiker Hagen, wandte. Er hat, was man heute von jedem Anfänger in der Chemie verlangt, niemals eine Retorte oder ein Reagenzglas in der Hand gehabt, besaß allerdings statt dessen ein riesiges Gedächtnis und ein geistiges Anschauungsvermögen von seltener Kraft. "Obgleich er nie ein einziges chemisches Experiment" auch nur "gesehen hatte, so hatte er doch nicht allein die ganze chemische Nomenklatur vollkommen inne, sondern er wußte auch den ganzen Rezeß aller chemischen Experimente so genau und detailliert anzugeben, dass einst an seinem Tisch in einem Gespräch über Chemie der große Chemiker Doktor Hagen voll Verwunderung erklärte: es sei ihm unbegreiflich, wie man durch bloße Lektüre ohne Hilfe anschaulicher Experimente die ganze Experimentalchemie so vollkommen wissen könne als Kant" (Jachmann, S. 19 f.). Mag auch seine theoretische Überzeugung, dass die ganze "mechanische oder chemische Kunst der Experimente oder Beobachtungen" bloß "technisch praktische Regeln der Geschicklichkeit" enthalte (Kritik der Urteilskraft, Einl., S. XIV), dabei mitgespielt haben: bezeichnend für die Art seiner geistigen Begabung wie für sein Verhältnis zur Naturwissenschaft überhaupt ist sie jedenfalls.

 

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*) Äußerungen über Kant, seinen Charakter und seine Meinungen. 1804 (von Metzger).

**) Akad.-Ausg. XIV, S. 484 ff., 502 ff., 521 ff. Ein neu aufgefundener Brief an Bergrat Karsten (Berlin) vom 16. März 1795 (Akad.-Ausg. XIII, S. 599f.) bezeugt das Fortdauern seines uns schon von Buch II, Kap. I, 3 her bekannten Interesses auch für Geologie und Mineralogie.


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