C. Die Streitschrift gegen Eberhard


Kant war, wie er selbst oft genug ausgesprochen hat, kein Freund gelehrter Streithändel. Als daher in der zweiten Hälfte der 80er Jahre mit dem Vordringen seiner Lehre auch die literarische Gegnerschaft sich von Jahr zu Jahr mehrte, überließ er die Abwehr der Angriffe, soweit es irgend möglich, seinen Anhängern. Er selbst hatte am Abend seines Lebens Wichtigeres zu tun, als sich in solcher Polemik zu verzetteln; er mußte sein System zu vollenden eilen. Auch die Rezensionen Herders, die Abhandlung über das Orientieren, das Begleitwort zu Jakobs Schrift und die noch zu erwähnende Abhandlung von 1788 'Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien' tragen nicht das Gepräge eigentlicher Streitschriften. Eine solche hat er erst in seinem 66. Jahre notgedrungen abgefaßt: die gegen seinen Kollegen Eberhard in Halle gerichtete Abhandlung:

 

Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll (1790).

Eigentümlicherweise mußte Kant seine Kritik gerade gegen diejenige philosophische Richtung am stärksten verteidigen, der er in seiner vorkritischen Zeit nahegestanden hatte. Es waren eben die beati possidentes der deutschen Katheder und der philosophischen Literatur bis 1781, die sich in ihrem langjährigen Besitzstand durch ihn bedroht fühlten. Wie sein Freund Mendelssohn, gehörte auch Johann August Eberhard aus Halberstadt (1739—1809) der aufklärerischen Richtung im allgemeinen, der Leibniz-Wolffschen Schule im besonderen an. Von Haus aus rationalistischer Theologe, hatte er sich zuerst durch seine 'Neue Apologie des Sokrates' (1772), in der er mit guten Gründen die übliche Verketzerung auch der tugendhaften Heiden anfocht und die entgegenstehenden kirchlichen Lehren angriff, in weiteren Kreisen bekannt gemacht. Er war gegen die Ränke der rechtgläubigen Geistlichkeit durch König Friedrichs persönliches Dazwischentreten 1774 zum Prediger in Charlottenburg, vier Jahre später, nachdem Kant abgelehnt, zum Professor der Philosophie in Halle ernannt worden. Als solcher mit Wort und Feder ein eifriger Verfechter der Leibniz-Wolffschen Lehre, sah er nun seinen Standpunkt durch den seit etwa 1785 immer mehr um sich greifenden Kritizismus bedroht. Er gründete deshalb Ende 1788 eine neue, in vier jährlichen "Stücken" erscheinende Fachzeitschrift, das Philosophische Magazin, das allgemach ein Sammelplatz von Kants heftigsten Gegnern wurde. Gleich in den drei ersten Stücken rückte der Herausgeber selbst mit einer ausführlichen Kritik gegen Kants Hauptwerk vor, und bei seiner zwar nicht tiefdringenden, aber flüssigen und allgemeinverständlichen Schreibweise war Gefahr im Verzuge.

Zwar rieten ergebene Freunde, wie Jakob und Reinhold, dein Meister ab, seine kostbare Zeit mit der Abwehr von "Fechterstreichen" der Eberhard u. a. zu vergeuden; Reinhold insbesondere empfahl statt dessen eine in der 'Literaturzeitung' und dem 'Merkur' zu veröffentlichenden Erklärung, dass man ihn (Kant) nicht verstanden habe. Indes das schien Kant doch gegenüber dem Nichtverstehen wollen, das er bei seinen Gegnern annahm, nicht genügend. Selten hat sich der im Grunde stets maßvolle Philosoph so erbittert über einen literarischen Gegner ausgesprochen, wie über Eberhard. Im zweiten der beiden Briefe vom 12. und 19. Mai 1789, in denen er Reinhold ausführliche "Bemerkungen" zur Widerlegung Eberhards übersendet, spricht er von der dazu nötigen "ekelhaften Arbeit", die "lauter Wortverdrehungen" zurechtzustellen habe, von der "Seichtigkeit und Falschheit eines bloß auf Ränke gestimmten Autors", denn "Bescheidenheit ist von diesem Manne, dem Großtun zur Maxime geworden ist, nicht zu erwarten". Einen solchen Menschen, "der aus Falschheit zusammengesetzt ist und mit allen den Kunststücken, z. B. dem der Berufung auf mißgedeutete Stellen berühmter Männer ... bekannt und darin durch Naturell und lange Gewohnheit gewandt ist, gleich zu Anfang seines Versuchs in seiner Blöße darzustellen", sei "Wohltat fürs gemeine Wesen".

Auf Grund der ersten Reihe Kantischer Bemerkungen faßte dann Reinhold, "durchdrungen von dem ... unwürdigen Benehmen jenes unphilosophischen Schwätzers", den er in Halle kennen gelernt und als "einen wahren Camäleon" befunden habe, sogleich eine Rezension des 3. und 4. Stückes für die Literaturzeitung ab; den Inhalt von Kants zweitem Schreiben wolle er als Corps de Reserve behalten, um auf die unausbleibliche Antikritik des Hrn. E. damit hervorzurücken und seinem Magazin damit den Rest zu geben (R. an Kant, 14. Juni 89). Als jedoch Eberhard und seine Schildknappen mit ihren Angriffen im 'Magazin' fortfuhren, muß unser Philosoph die Sache doch für wichtig genug gehalten haben, um selber einzugreifen und von seinem Vorsatze, "sich in gar keine förmliche Streitigkeit einzulassen", diese "einzige" Ausnahme zu machen. Anfangs wollte er sich mit einem kürzeren Aufsatze begnügen (an Reinhold, 21. Sept.); dann entschloß er sich zu einer besonderen Schrift (desgl. 1. Dez.), die er im Dezember 1789 ausarbeitete, und die Ostern 1790, gleichzeitig mit der Kritik der Urteilskraft, erschien.

Uns interessiert Kants Polemik, die unter Schonung des "berühmten Herrn von Leibniz" und seiner Tochter, der Wolffschen Philosophie, gegen ihren Nachtreter um so schärfer geführt wird, wenig mehr, zumal da der Ton der ziemlich umfangreichen Schrift meist trocken ist. Trotz mancher gelungenen Einzelproben von Witz, Ironie, ja auch boshaftem Spott wird doch der glänzende Stil, durch den z. B. Lessings Streitschriften uns auch für die unbedeutendsten Personen oder Gegenstände zu interessieren wissen, entfernt nicht erreicht. Die noch heute nicht erloschene Bedeutung der Schrift besteht vielmehr darin, dass der Begründer des Kritizismus in ihr, in objektiver gewordener Rückschau auf sein neun Jahre zuvor erschienenes Hauptwerk, über wichtige Punkte seiner Lehre authentischen Aufschluß gibt, wie denn schon Fichte durch sie viel für sein Verständnis der Kritik gewonnen zu haben behauptete. Aus den besonders lesenswerten Schlußseiten spricht die ruhige Zuversicht auf die Fortdauer seiner Philosophie. Schon in dem Briefe vom 19. Mai 1789 an Reinhold hatte er erklärt, die Angriffe der Gegner nicht zu fürchten. "Im Grunde" könne ihm "die allgemeine Bewegung, welche die Kritik nicht allein erregt hat, sondern noch erhält, samt allen Allianzen, die wider sie gestiftet werden (wiewohl die Gegner derselben zugleich unter sich uneinig sind und bleiben werden) nicht anders als lieb sein; denn das erhält die Aufmerksamkeit auf den Gegenstand". Ja, die beständigen Mißverständnisse oder Mißdeutungen könnten sogar dazu dienen, den Ausdruck hier und da bestimmter zu machen. Dem fügt jetzt die Streitschrift die bei aller Bescheidenheit doch siegessicheren Worte hinzu: "Übrigens mag die Kritik der reinen Vernunft, wenn sie kann, durch ihre innere Festigkeit sich selbst weiterhin aufrechterhalten. Verschwinden wird sie nicht, nachdem sie einmal in Umlauf gekommen, ohne wenigstens ein festeres System der reinen Philosophie, als bisher vorhanden war, veranlaßt zu haben" (S. 73 meiner Ausgabe, Philos. Bibl., Bd. 46 c).

Eberhard blieb natürlich, als unfehlbarer deutscher Fachprofessor, unbelehrbar. Er ließ einen Mitarbeiter im zweiten Bande seines 'Magazins' den Satz schreiben: "Die Kantische Philosophie wird in der Tat in Zukunft einen sehr merkwürdigen Beitrag zur Geschichte der Verirrungen des menschlichen Verstandes liefern." Trotzdem fanden sich anfangs noch manche, die sich "auf Eberhards Gewäsch verließen und ihm treulich nachbeteten", wie sich der Leipziger Professor Born ausdrückte (an Kant, 10. Mai 90), der freilich auch nicht viel anderes getan als Kant treulich nachgebetet hat. Letzterer konnte jedoch jetzt die Weiterführung der Fehde endgültig seinen Anhängern, z. B. dem Hofprediger Schultz überlassen, dem er im Sommer 1790 in zwei Aufsätzen weiteres Material dazu liefert. Kant trug auch äußerlich bald den Sieg davon. Denn seine Streitschrift erlebte bereits im nächsten Jahr eine zweite Auflage, während seines Gegners Magazin schon 1792 einging. Auch das an dessen Stelle tretende 'Philosophische Archiv' (1792/93) blieb eine Eintagsfliege, der selbst die niedliche Denunziation eines Anonymus nicht aufhelfen konnte: die "Desorganisation" der Philosophie durch Kant finde ihre Parallele in der Desorganisation der Politik durch die französische Revolution. Kant hat sich mit Recht um den Herausgeber und seine Angriffe nicht mehr gekümmert.


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