5. Kant und Goethe *)


Es ist kein Geringerer als Goethe, der bekannt hat, Kants Kritik der Urteilskraft "eine höchst frohe Lebensepoche schuldig zu sein" und die großen Hauptgedanken des Werkes seinem "bisherigen Schaffen, Tun und Denken ganz analog" fand. Die Betonung der Selbständigkeit und doch wieder wechselseitigen Befruchtung von ästhetischer und teleologischer Urteilskraft, d. h. Kunst und lebendiger Natur, war ihm aus der Seele gesprochen. Und diese Hochschätzung hat bis in sein höchstes Alter gedauert. Noch am 29. Januar 1830 schreibt er dem alten Freund Zelter: "Es ist ein grenzenloses Verdienst unseres alten Kant um die Welt und ich darf sagen, auch um mich, dass er in seiner Kritik der Urteilskraft Kunst und Natur nebeneinander stellt und beiden das Recht gibt, aus großen Prinzipien zwecklos **) zu handeln." Ja, noch am 8. Juli 1831, also acht Monate vor seinem Tode, gibt der 81jährige den Künstlern den Rat, wenn anders sie sich "Natur und Naturell" bewahren wollten, "Kants Kritik der Urteilskraft zu studieren".

Ist in letzterem Falle auch zweifellos deren von uns noch zu besprechender ästhetischer Teil gemeint, so war es doch, wie Gottfried Körner bezeugt, zunächst die teleologische Urteilskraft, in welcher der damals eifrig mit Naturstudien beschäftigte Goethe "Nahrung für seine Philosophie" gefunden hatte; schon im Herbst 1790, da Körners Mitteilung darüber an Schiller vom 6. Oktober d. J. stammt. Das beweisen denn auch die gerade im zweiten Teile besonders zahlreichen Anstreichungen und Randbemerkungen in dem noch erhaltenen Goethe'schen Exemplare des Werkes, über die mir zum erstenmal genau zu berichten vergönnt war,***) und die den Dichter selbst noch nach 27 Jahren bei erneuter Lektüre des Buches erfreuten. Ich möchte auch hier das Wichtigste herausheben, zumal da es uns zum Schlusse noch einmal eine Reihe bedeutsamer Einzelgedanken Kants in kurzer Überschau vorführen wird.

Zunächst hat der Dichter die erkenntnistheoretische Grundlage des ganzen Werks, die zugleich dessen Titel erklärt, richtig herausgefunden, nämlich: die methodische Bedeutung der Urteilskraft als Mittelglied zwischen Verstand und Vernunft, oder Erkennen und Begehren. Dazu ihre grundlegende Einteilung in bestimmende und reflektierende (s. oben S. 350), nebst dem Begriffe der Zweckmäßigkeit der Natur als einer "subjektiven Maxime" der letzteren. Ferner: Die Teleologie ist "ein Prinzip mehr", die Naturerscheinungen unter Regeln zu bringen, da wo der Mechanismus des Kausalgesetzes nicht ausreicht. Ein Ding existiert als Naturzweck, wenn es von sich selbst Ursache und Wirkung ist und ein Ganzes aus eigener Kausalität hervorbringt (doppelt angestrichen, ebenso der Satz:) Die Natur organisiert sich selbst, und in jeder Spezies ihrer organisierten Produkte. Sehr mußte ihm, dem leidenschaftlichen Beobachter der Natur, auch Kants Bemerkung behagen: Nur soviel sieht man (sc. in der Naturwissenschaft) vollständig ein, als man nach Begriffen — nämlich durch Beobachtung und Experiment — selbst machen und zustande bringen kann.

Noch weit mehr aber ergriffen des Dichters lebhafte Phantasie solche Stellen, in denen, um mit seinen eigenen Worten zu reden, der "köstliche Mann" "über die Grenzen, die er selbst gezogen, mit einem Seitenwink hinausdeutet". Dahin gehört vor allem der durch ein dreifaches Ausrufungszeichen am Rande ausgezeichnete, auch von uns oben hervorgehobene Gedanke aus § 70: ob nicht in dem uns unbekannten "inneren Grande" der Natur die physisch-mechanische und die Zweckverbindung schließlich doch "in einem Prinzip" zusammenhängen. Freilich wäre, um das zu erkennen, ein "intuitiver" Verstand nötig, der von der Anschauung des Ganzen zum Besonderen sich wendet, anstatt, wie unser "diskursiver" menschlicher, umgekehrt. Für Kant ist ein solcher "urbildlicher" Verstand (intellectus archetypus) freilich nur eine Idee (§ 77), während Goethe an ihm selbst teilhaben zu können meint. Es gefällt ihm auch, dass der Philosoph ein Übersinnliches, als gemeinschaftliches Prinzip von mechanischer und teleologischer Ableitung, wenigstens für möglich hält, und dass eine "große und sogar allgemeine Verbindung beider Gesetze" in den Erzeugungen der Natur mindestens denkbar sei (§ 78); wobei er auch der kritischen Einschränkung zustimmt, dass die Teleologie nicht zur "theoretischen" Naturwissenschaft (Mechanik, Physik), sondern nur zur Naturbeschreibung, nicht zur "Doktrin", sondern nur zur "Kritik" gehöre (§ 79). Im Zusammenhang damit interessiert ihn natürlich ganz besonders — an dieser Stelle lag noch ein altes Buchzeichen — der § 80 mit seiner Forderung, dass die mechanisch-kausale Methode sich soweit zu erstrecken habe, als es nur immer "mit Wahrscheinlichkeit geschehen kann"; und die sich daran schließende, darwinistische Gedanken vorausahnende Hoffnung auf eine vielleicht einmal mögliche Ausdehnung des mechanischen Prinzips; mit dem Schluß, dass die Lösung der Frage ohne die Annahme einer "intelligibelen Substanz" als Urgrundes der Dinge undenkbar sei.

Endlich erregten, wenn auch nicht in gleich starkem Maße, Goethes Teilnahme die bedeutsamsten unter den späteren, die Grenzgebiete der Teleologie berührenden Erörterungen der 'Methodenlehre': so die Definition des Zwecks und Endzwecks eines Naturwesens (§ 82); die Frage, ob Glückseligkeit oder Kultur des Menschen der letzte Zweck der Natur sei (§ 83); sowie die Schlußausführung dieses Paragraphen, die im Sinne Schillers in der Pflege der schönen Künste und Wissenschaften eine Vorbereitung zur Herrschaft der Vernunft sieht, während zugleich die Übel in Natur und Menschenwelt die Kräfte der Seele "aufbieten, steigern und stählen". Der religionsphilosophische Hauptgedanke, dass erst die moralische Zwecklehre, mit ihrem moralischen Gottesbegriff, den Mangel der physischen ergänze und "allererst eine Theologie gründe", hat sogar unserem Dichter ein an den Rand geschriebenes optime entlockt; wie denn auch zwei Seiten später die tiefsinnige Randbemerkung: 'Gefühl von Menschenwürde objektiviert = Gott' folgt. Der letzte Gedanke des Buches, der Goethes Aufmerksamkeit auf sich zog, ist gleichfalls ethisch-religiöser Natur: das höchste denkbare Gut für den Menschen ist zwar die Glückseligkeit, aber nur unter der Bedingung der "Einstimmung" mit dem Gesetze der Sittlichkeit, "als der Würdigkeit, glücklich zu sein" (§ 87).

Wir haben soeben neben Goethes Schillers Namen genannt. Und können daher unmöglich an der Tatsache vorbeigehen, dass gerade die Kritik der Urteilskraft die beiden Großen zu dauerndem Geistes- und Freundschaftsbunde zusammengeführt hat. Wir denken dabei natürlich an das berühmte im Hochsommer 1794 zwischen beiden geführte Gespräch, das von Goethe noch Jahrzehnte später als "glückliches Ereignis" gepriesen worden ist. Beide, bisher "Antipoden", treffen sich auf der Heimkehr von einer Sitzung der Jenaer 'Naturforschenden Gesellschaft' und geraten in ein sie beide fesselndes Gespräch über das Wirken der Natur "aus dem Ganzen in die Teile". Wenn darauf Goethe sein Lieblingsstück, die Metamorphose der Pflanze, vor dem Auge des aufmerksamen Zuhörers entstehen ließ, so mußte Schiller, als "gebildeter Kantianer", ihm entgegenhalten: "Das ist keine Erfahrung, sondern eine Idee." Denn "wie kann jemals Erfahrung gegeben werden, die einer Idee angemessen sein sollte?" Goethe machten solche Sätze zunächst erstaunt, dann verdrießlich — es regte sich in ihm nach seinem eigenen Bekenntnis von neuem der "alte Groll" des Realisten wider den Idealisten —, und schließlich, bei näherem Nachdenken, "ganz unglücklich". Für ihn war die "Idee" Kant-Schillers eben — Anschauung: Ich sehe sie (die symbolische Pflanze) doch vor mir! Allein er beginnt doch theoretisch unsicher zu werden. Er ahnt, ohne es schon klar zu erkennen, dass zwischen seiner "Erfahrung" und Kants "Idee" etwas "Vermittelndes, Bezügliches" obwalten müsse. Die deutliche Erkenntnis hat ihm dann, unter Schillers Vermittlung, das weitere Studium der kritischen Philosophie gebracht, so dass er von einem "steifen Realismus" und einer "stockenden Objektivität" in stetiger Entwicklung schließlich dazu gelangt, Schillers Kantisches Glaubensbekenntnis als sein eigenes zu unterschreiben (Goethe an Schiller, 13. Januar 1798) und noch in den letzten Lebensjahren (11. April 1827) seinem Eckermann sagen konnte: "Ich ging aus eigener Natur einen ähnlichen Weg wie Kant. Meine Metamorphose der Pflanzen habe ich geschrieben, ehe ich etwas von Kant wußte, und doch ist sie ganz im Sinne seiner Lehre."

 

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*) Alle Belegstellen zum Folgenden s. in meinem Buche: Kant — Schiller — Goethe. Leipzig 1907, 2. Auflage 1923.

**) Der "Zweck" ist hier in anderem Sinne gemeint. Auch Kant spricht von einer "Zweckmäßigkeit ohne Zweck".

***) Kant — Schiller — Goethe, S. 149—151, 280 ff.


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