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"Was ist Sanskrit?"

Seltsam mutet es nun an, dass diese strenge Auffassung gerade der ältesten Sprachwissenschaft gegenüber mit Erfolg durchgeführt worden ist. Was man gegenüber unseren Kultursprachen noch gar nicht recht zu untersuchen gewagt hat, das hat man dem Sanskrit gegenüber erreicht. Was ist Französisch? Was ist Deutsch? Das hat so recht gewissenhaft noch niemand gefragt. "Was ist Sanskrit?" hat aber O. Franke (in Bezzenbergers Beiträgen 17. Band S. 54) als eine offene Frage hingestellt. Hat der altindische Grammatiker Pânini seine berühmte Grammatik auf eine lebendige Sprache gegründet, auf welche, oder hat er seine Regeln aus Literaturwerken abstrahiert? Es scheint, nach Franke, als ob Pänini nach seinem subjektiven Ermessen eine zu seiner Zeit noch geredete Sprache (Bhasa), die aber doch schon nicht mehr Vulgärsprache, sondern Schriftsprache war, zur Grundlage genommen hätte. Es scheint, dass die jeweilige indische Schriftsprache, während das Ansehen eines berühmten Grammatikers bei seinem Nachfolger in ungeschwächtem Ansehen stand, als Schriftsprache erstarrte, so dass wir ohne Bosheit zu der Tautologie gelangen müßten: das Sanskrit Pâninis sei das Sanskrit Pâninis gewesen. Es scheint, dass Pânini den gebildeten Bhasa von ganz Aryavarta (dem Lande der Arier) zur Quelle hatte, aber unter den Worten und Formen von Aryavarta nach subjektivem Ermessen entschied und nach seinem Geschmack oder der Mode seiner Zeit auch Archaismen als Bestandteile der Bildungssprache mit aufnahm. Franke kommt zu dem Ergebnis, dass das Sanskrit Pâninis im genauesten Sinne "nicht mit der Bhasa identisch und keine lebende Sprache ist, denn in dieser Form hat sie nirgends und zu keiner Zeit existiert". Pânini habe den Ausdruck Sanskrit wahrscheinlich noch gar nicht gekannt.

Dieser Sachverhalt, der in dem langjährigen Gebrauch der homerischen Sprache für epische Dichtungen der Griechen vielleicht ein Gegenstück hat, ist für uns darum so bedeutungsvoll, weil wir eben auch gern die Frage stellen möchten: Was ist Deutsch? Wir erfahren mit Verwunderung, dass die klassischen Dramatiker Indiens ihre vornehmen Personen das gelehrte Sanskrit reden lassen, die schlichten Menschen dagegen Prakrit. Wir wundern uns, weil wir nicht beachten, dass wir es ebenso machen. In den Dramen Shakespeares unterscheidet sich die Sprache des Blankverses von den Prosastellen nicht viel anders als Sanskrit und Prakrit, wie mich Sanskritkenner versichern. Einen ähnlichen Unterschied finde ich bei Goethe; je älter er wird, desto mehr Sanskrit schreibt er. Schillers Versdramen sind durchaus Sanskrit. Und die große Bewegung der Sturm- und Drangperiode und des jüngsten Naturalismus ist nur ein Versuch, über unser gelehrtes Sanskritdeutsch hinwegzukommen. So müßten wir, indem wir die Frage nach der Sprachrichtigkeit mit starker Hand fortschieben, zu der Entscheidung kommen: das in unseren Schulen gelehrte Hochdeutsch ist — das in unseren Schulen gelehrte Hochdeutsch.

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