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Wer spricht richtig?

Wir haben gesehen, dass es eine allgemein gültige Aus- sprache nicht gibt, dass die musterhafte Aussprache guter Schauspieler nur von der Bühne herunter als ein Vorzug hingenommen, im Umgang aber von gesunden Ohren selbst als Fehler empfunden wird. Wir sehen jetzt, dass die mustergültige Sprache, wie sie uns an den klassischen Schriftstellern eines Volkes anempfohlen wird, nur beim Lesen dieser Schriftsteller selbst klassisch ist, sofort aber zum Fehler wird, wenn wir sie wirklich als Gemeinsprache nachahmen wollen. Wie von der Bühnensprache müssen wir von der Schriftsprache sagen, dass sie ein Muster sei, dem sich die sogenannten Gebildeten eines Volkes zu nähern suchen, das sie aber niemals in der Gemeinsprache erreichen dürfen, ohne unangenehm oder lächerlich zu werden. Was ist also nun die Gemeinsprache, die richtige Sprache der Gebildeten, wenn ihr Muster selbst ein falsches Muster ist? Wer spricht richtig, wenn es keinen Maßstab gibt, die Richtigkeit zu beurteilen, wenn es weder für die Aussprache noch für den Wortgebrauch noch für die Satzbildung ein Muster gibt? Wir sind allerdings geneigt, die Frage cavalierement zu beantworten. Wir antworten: wir sprechen richtig, wir Gebildeten, wir Leute von der guten Gesellschaft, die wir übrigens auch Kleider nach dem neuesten Schnitt tragen und den Fisch nicht mit dem Messer zerlegen. Ich fürchte, die Antwort wird nicht weit führen. Sie wird die weitere Frage heraufbeschwören: wer denn eigentlich zu uns gehöre? Wer gehört zu den Gebildeten? Am Ende gar nur der, der seine Muttersprache richtig spricht? Da würde sich aber die Schlange denn doch empfindlich in den Schwanz beißen.

Stellen wir die Frage einmal anders. Wann sprechen wir unsere Muttersprache richtig? Wann? Die Frage selbst kann eine zweifache Bedeutung haben. Wir — die Gebildeten des Volks — haben eine andere natürliche Sprache, die wir dann immer für die richtige Sprache halten, in unserer Jugend und im Alter. Wann sprechen wir also richtig: früher oder später? Wir gebrauchen ferner verschiedene Näherungsgrade an die Schriftsprache, je nachdem wir den Hörer einschätzen; wir reden nach Kräften Schriftdeutsch, wenn wir eine Vorlesung halten, auf der Kanzel oder auf der Bühne stehen, wir reden aber — dieselben "wir" — irgendeine der Mundart sich nähernde Sprache, sobald wir auf dem Markte, im Gedränge, auf dem Lande usw. mit ungebildeten Leuten zu tun zu haben glauben. Man wird mir einwenden, das eine Mal werde eben die Gemeinsprache geredet, das andere Mal die Mundart. Das mag meinetwegen bei einem beschränkten Pfarrer zutreffen, der auf der Kanzel sein (wohlgemerkt: sein) Hochdeutsch spricht, mit den Leuten sein Plattdeutsch; er beherrscht dann eben nur zwei Sprachen, die Gemeinsprache und die Mundart seiner Gegend. So spricht vielleicht der Missionar auf einer fernen Insel nur sein Hochdeutsch und außerdem nur noch karaibisch. Das ist aber nicht die Kegel bei "uns". Wir haben eine Menge Abstufungen in unserer Sprache, in der Aussprache sowohl wie im Satzbau. Der beste Sprecher unter unseren Schauspielern, Joseph Kainz, redete auf der Bühne völlig dialektfrei; im intimen Gespräch, wenn er sich unbefangen gehen ließ, redete er die Gemeinsprache, mit deutlichen Anklängen an die österreichische Heimat und zwar mit einem Stich in den slawodeutschen Beamtenjargon; ließ sich derselbe Schauspieler scheinbar noch mehr gehen, das heißt spielte er sich selbst, so wie er selbst gern gefallen wollte, so sprach er sehr gut und rein die Wiener Mundart. Er redete also nur dann richtig, wenn er seine künstliche Sprache sprach; wir denken da wieder zunächst an die Aussprache, weil er als Künstler den Satzbau nur auswendig zu lernen hatte, wie "wir", die hochgebildete Zierde des Volks, sie ihm als Dichter vorgeschrieben haben. Wie aber wir selbst? Wann sprechen wir denn eigentlich richtig? Wenn wir mit der Feder in der Hand und mit den Mustern vor uns Literatur machen, oder wenn wir — wir, diese selben Dichter und mustergültigen Schriftsteller, — unter uns sind und, ohne von Ungebildeten gestört zu werden, plaudern? Unser Literaturdeutsch muß uns selbst fehlerhaft erscheinen, wenn wir es an unserer doch so fehlerfreien Umgangssprache messen; unsere Umgangssprache ist falsch, wenn wir unser Literaturdeutsch für richtig halten. Aus dieser Stimmung heraus mochte ich einst geneigt sein, das musterhafte Deutsch manches berühmten Schriftstellers lächerlich zu finden und zu parodieren; notabene jedes Muster für sich, denn es gibt so wenig eine gemeinsame Literatursprache, dass jeder in ihr seine eigenen Fehler macht.