Dichtkunst, Poetik

Dichtkunst. Poetik. Eine so wichtige Kunst als die Poesie ist, verdient von Männern, die den feinsten Geschmack mit der schärfsten Beurteilung vereinigen, in ihrem psychologischen Ursprung, in ihren mannigfaltigen Äusserungen und in ihrer besten Anwendung betrachtet zu werden. Nicht deswegen, dass durch die beste Theorie dieser Kunst ein Dichter könnte gebildet werden; denn nur die Natur kann dieses tun; sondern damit die, denen die Natur die Anlage gegeben, ihre Bestimmung deutlich erkennen lernten und einen Weg vorgezeichnet fänden, auf welchem sie fortgehen müssen, um zu dem Grad der Grösse zu kommen, dessen ihr Genie fähig ist.

Obgleich sehr viel zu dieser Theorie dienendes geschrieben ist, so fehlt es noch an einem Lehrgebäude der Dichtkunst. Die, welche davon geschrieben haben, fanden das, was sie voraus setzen sollten, die Theorie der schönen Künste überhaupt, nicht vor sich, deswegen liessen sie sich in vielerlei Beobachtungen und Untersuchungen ein, die die Poesie mit allen anderen schönen Künsten gemein hat.

Wenn man die allgemeine Theorie der Künste oder die Ästhetik voraus setzt, so scheint die Poetik insbesondere folgende Untersuchungen zu erfordern.

Zuerst eine richtige Bestimmung des eigentümlichen Charakters der Poesie, wodurch sie zu einer beson dern Kunst wird und der besonderen Mittel, die sie anwendet, den allgemeinen Zweck der Künste zu erreichen.

Hierauf würde der Charakter des Dichters und die nähere Bestimmung seines absonderlichen Genies zu betrachten sein, wodurch er gerade ein Dichter und nicht ein Redner oder ein anderer Künstler wird.

Dann würde der wahre Begriff des Gedichts fest zu setzen und bestimmt zu zeigen sein, wodurch es sich von jedem anderen Werk der redenden Künste unterscheidet. Es würde sich hieraus ergeben, was in der Materie oder in den Gedanken, was in der Sprache und in der Art des Ausdruckes poetisch ist. Hierauf müsste man versuchen, die verschiedenen Gattungen des Gedichts allgemein zu bestimmen und den besonderen Charakter einer jeden Gattung festzusetzen. Man müsste den Ursprung der Gattung und Arten in der Natur des poetischen Genies aufsuchen und daher wieder die, jeder Art vorzüglich angemessene Materie, die geschicktesten Formen und den wahren Ton bestimmen.

Bei jedem besonderen Teile dieser Untersuchungen müsste man eine beständige Rücksicht auf die praktische Anwendung der Theorie haben, damit der Dichter dabei alles fände, was zu Erforschung und Ausbildung seines Genies dient. Er müsste daraus lernen, durch was für Studium und Übung er seine Fähigkeit ten erweitern, durch welche Wege er seinen Stoff erfinden und durch was für Arbeiten er die Fertigkeit in seiner Art erwerben könne.

Wiewohl es uns noch an einem solchen System fehlt, so haben über alle zur Poetik gehörige Materien verschiedene große Männer alter und neuer Zeit so viel einzelne Betrachtungen vorgetragen, dass dem, der das Werk im Zusammenhang ausführen wollte, die Arbeit schon sehr würde erleichtert werden.

Aristoteles scheint zuerst die Bahn hierzu eröffnet zu haben. Der Teil seiner Poetik, der auf unsere Zeiten gekommen ist, zeugt, wie die meisten Schriften dieses großen Mannes, von scharfen philosophischen Einsichten und feinem Geschmack. Doch hat er, welches bei einem Genie, wie das seinige war, das immer von den ersten und allgemeinesten Grundsätzen anzufangen liebte, zu verwundern ist, sich bloß bei dem aufgehalten, was der Zufall oder das Genie der Dichter bis auf seine Zeiten in der Poesie hervorgebracht hatte. Etwas allgemeiner und zugleich weiter aussehend ist das Lehrgedicht des Horaz; ein Werk, wo die wichtigsten Lehren der Kunst auf die vollkommenste Weise vorgetragen sind. Da es die größten Geheimnisse der Kunst anzeigt, so sollte jeder Dichter dieses Werk unaufhörlich studieren. Aber Horaz hat als ein Dichter geschrieben, dem es nicht erlaubt war, sich in genaue Entwicklung der Sachen einzulassen. Er spricht in dem Ton eines Gesetzgebers, dessen Wille für Gründe dient. In diesem Ton und mit nicht geringerer Scharfsinnigkeit haben in Frankreich Boileau1), und in England Pope2) von der Dichtkunst geschrieben.

Von den unzähligen in die Poetik einschlagenden dogmatischen Schriften, enthalten die in der Anmerkung hierunten3) angeführten, das gründlichste und wichtigste, was über diese Materien bis dahin entwickelt worden.

 

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1) Art poetique.

2) Essay on Kriticism.

3) Della ragion poetica Libri due di Vicentio Gravina. Muratori della perfetta poesia. Reflexions sur la poesie & la peinture par l'abbé du Bos.

Von deutschen Schriften: Die kritischen Werke von Bodmer und von Breitinger. Homes Grundsätze der Kritik. Ramlers, Batteux. Schlegels Abhandlungen, die seinem übersetzten Batteux beigefügt sind.


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