Entwicklung

Entwicklung. (Schöne Künste) Ist eigentlich die Zergliederung oder Auslegung des mannigfaltigen, das in einer Sache liegt und ist von der Auflösung unterschieden. Diese macht das Ungewisse gewiss, das Zweifelhafte bestimmt; stellt die Ordnung her, wo sie nicht vorhanden schien; jene lässt uns das, was wirklich in einer Sache liegt, erkennen, indem sie uns eines nach dem anderen von den in ihr liegenden Dingen klar vor Augen legt. Das Verworrene oder das, was so scheint, wird aufgelöst, und das Zusammengelegte wird entwickelt. Ein Begriff wird entwickelt durch die Erklärung, ein Gedanke durch Zergliederung desselben; aber weder der eine, noch der andere wird aufgelöst, es sei denn, dass etwas Rätselhaftes oder unbegreiflich Scheinendes darin gewesen sei. Die Auflösung gebiert Gewissheit und Richtigkeit; die Entwicklung aber Deutlichkeit. Da nun diese bei den schönen Künsten verschiedentlich in Betrachtung kommt,1 so ist auch die Entwicklung in der Theorie derselben zu betrachten.

 Sie ist überall nötig, wo die Gegenstände nicht anders als durch eine völlige Deutlichkeit ihre Wirkung tun können. Der Redner muss die Hauptbegriffe, auf denen seine Beweise beruhen, entwickeln; die Gedanken, auf deren Deutlichkeit viel ankommt; die Gesinnungen, die Charaktere, die Handlungen müssen überall, wo sie als Hauptgegenstände, nicht aber bloß zufällig und im Vorbeigehen erscheinen, gehörig entwickelt werden.

 Begriffe werden, wie schon angemerkt worden, durch Erklärungen entwickelt, auch wo diese fehlen oder sonst nicht nötig sind, durch Zergliederung. Wenn Virgil sagt:

 Obstupui, steteruntque comæ, vox faucibus hæsit.

so drückt er im ersten Wort den Hauptbegriff des Entsetzens aus: was er aus der Zergliederung desselben hinzutut, gehört zur Entwicklung. Es versteht sich von selbst, dass nur die wichtigsten Begriffe, auf deren Kraft viel ankommt, der Entwicklung nötig haben.

 Gedanken werden ebenfalls durch Zergliederung entwickelt; zum Beispiel davon kann folgendes dienen. Cicero wollte in seiner Rede2 sagen: ich merke wohl, dass ich über eine so abscheuliche Sache nicht reden kann, was und wie ich wollte; weil dieser Gedanken da wichtig war, so entwickelt er ihn also:3 »Ich sehe wohl ein, dass ich von so wichtigen und dabei so abscheulichen Dingen, weder geschickt genug reden, noch ernstlich genug klagen, noch frei genug meine eifernde Stimme dagegen erheben kann; zu dem ersten fehlt mir die Fähigkeit, zu dem anderen das Ansehen, welches das Alter gibt und der Freiheit stehen die Umstände der Zeit im Weg.« Gesinnungen und Charaktere werden entwickelt, wenn die wesentlichsten Fälle, bei denen sie sich äußern und durch die man ihre völlige Natur erkennen lernt, herbei gebracht werden; diese Fälle müssen aber wirklich verschieden sein, nicht immer derselbe Fall unter anderen Umständen. So entwickelt sich in der Ilias der Charakter des Achilles durch vielerlei, wirklich verschiedene Fälle; und so wusste Richardson in der Clarisse und in dem Grandison, jeden Charakter, auch jede Gesinnung völlig zu entwickeln; und kann in diesem Teil der Kunst als das beste Muster das der Dichter zu studieren hat, vorgeschlagen werden.

  Die Entwicklung der Leidenschaften hat ihre besonderen Schwierigkeiten, wenn sie entweder einen etwas ungewöhnlichen Gang nehmen oder zu einer ungewöhnlichen Größe steigen: in beiden Fällen ist es schwer alles so zu veranstalten, dass nirgends etwas Unnatürliches oder Gezwungenes mit unterlaufe. Dazu gehört eine große Kenntnis des menschlichen Herzens und eine gute Bekanntschaft mit vielerlei Charakteren der Menschen. Die seltsamsten Äußerungen der Leidenschaften entstehen oft aus Kleinigkeiten, ohne welche sie unbegreiflich sein würden. Als ein Muster einer sehr geschickten und guten Entwicklung einer bis auf das äußerste gestiegenen Leidenschaft haben wir in Geßners Abel, wo der so gar unnatürlich scheinende Hass des Cains auf eine meisterhafte Art von dem Dichter entwickelt wird.

  Man kann bei der Entwicklung eines Gegenstandes zweierlei Absichten haben; nämlich den Eindruck desselben zu schwächen oder ihn zu verstärken. Einige Sachen scheinen groß und wichtig, so lange man sie im Ganzen ansieht, werden aber gering, nachdem sie entwickelt worden; da hingegen andere gering scheinen und erst durch die Entwicklung ihre Größe zeigen. Von dem ersteren haben wir ein Beispiel in der gerichtlichen Handlung, da Cicero den Annius Milo verteidigt. Es entstand ein großer Lärm in Rom, dass Milo den Clodius auf offener Landstrasse angefallen und ermordet habe. Dieses ist allerdings eine Sache, die dem ersten Anscheine nach abscheulich und rachschreiend scheint. Cicero entwickelt in seiner Verteidigung des Milo die ganze Sache und dadurch verschwindet das Abscheuliche derselben. Eben dieser Redner gibt uns in seiner Rede von der Austeilung der Äcker auch ein schönes Beispiel des zweiten Falls. Der Vorschlag einige Äcker der Republik an arme Bürger auszuteilen scheint, wenn man ihn obenhin ansieht, billig und vernünftig, auch zum Besten der Armut ausgedacht zu sein. Aber Cicero entwickelt alle Folgen desselben so, dass man ihn danach als ein verräterisches Projekt gegen die Republik und selbst gegen die Freiheit des Volks ansieht. So sehr viel kommt auf eine geschickte Entwicklung an.

 

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1 S. Deutlichkeit.

2 Pro Roscio Amerino.

3 De his rebus tantis tamque atrocibus, neque satis commode dicere, neque satis graviter conqueri, neque satis libere vociferari posse intelligo; nam commoditati ingenium, gravitati ætas, libertati tempora sunt impedimento.

 


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