Einheit

Einheit. (Schöne Künste) Dasjenige, wodurch wir uns viel Dinge als Teile eines Dinges vorstellen. Sie entsteht aus einer Verbindung der Teile, die uns hindert einen Teil als etwas Ganzes anzusehen. Viele auf einem Tisch neben einander stehende Gefäße, die man bloß zum Aufbehalten dahin gesetzt hat, haben keine Verbindung unter einander; man kann jedes für sich als etwas Ganzes betrachten: hingegen haben die verschiedenen Räder und andere Teile einer Uhr eine solche Verbindung unter einander, dass eines allein, von den übrigen abgesondert, nichts Ganzes ist, sondern ein Teil von etwas anderem. Also ist in der Uhr Einheit; in den auf einem Tische zusammengestellten Gefäßen aber ist keine Einheit.

 Eigentlich ist das Wesen eines Dinges der Grund seiner Einheit, weil in dem Wesen der Grund liegt, warum jeder Teil da ist und weil eben dieses Wesen eine Veränderung leiden würde, wenn ein Teil nicht da wäre. Also ist Einheit in jeder Sache, die ein Wesen hat, folglich in jeder Sache, von der es möglich ist zu sagen oder zu begreifen, was sie sein soll. Dass eine solche Sache das ist, was sie sein soll, kommt daher, dass alles was dazu gehört, wirklich in ihr vorhanden ist. Also ist die Einheit der Grund der Vollkommenheit und der Schönheit; denn vollkommen ist das, was gänzlich und ohne Mangel das ist, was es sein soll; schön ist das, dessen Vollkommenheit man sinnlich fühlt oder empfindet.1 Daher also kommt es, dass uns von Gegenständen unserer Betrachtung nichts gefallen kann, darin keine Einheit ist oder dessen Einheit wir nicht erkennen, weil wir in diesem Fall nicht beurteilen können, ob die Sache das ist, was sie sein soll. Wenn uns irgendein Werkzeug gewiesen würde, von dessen Gebrauch wir uns gar keine Vorstellung machen können, so werden wir niemals ein Urteil darüber fällen, ob es vollkommen oder unvollkommen sei. So ist es mit allen Dingen, deren Betrachtung Gefallen oder Missfallen erweckt. So oft unsere Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand gerichtet wird, so haben wir entweder schon einen hellen oder dunkeln Begriff von seinem Wesen, nämlich von dem was er sein soll oder wir bilden uns erst einen solchen Begriff. Mit diesem Ideal vergleichen wir die vorhandene Sache, eben so, wie wir ein Bildnis mit dem Begriff, den wir von dem Original haben, vergleichen. Die Übereinkunft des Wirklichen mit dem Idealen erweckt Wohlgefallen, die Abweichung des Wirklichen vom Idealen erweckt Missfallen, weil wir einen Widerspruch entdecken, und, welches uns unmöglich ist, auf einmal zwei sich widersprechende Dinge uns vorstellen sollen.

 Diese Entwicklung der zur Einheit gehörigen Begriffe hat das Ansehen einer Subtilität; sie ist aber zu genauer Bestimmung einiger Grundbegriffe der Ästhetik notwendig. Wenn die Philosophen sagen, die Vollkommenheit und in ganz sinnlichen Sachen die Schönheit, bestehe aus Mannigfaltigkeit in Einheit verbunden, so kann der Künstler durch Hilfe der vorhergegebenen Entwicklung diese Erklärung leicht fassen. Er sagt sich, dass jedes Werk, das vollkommen oder das schön sein soll, ein bestimmtes Wesen haben müsse, wodurch es zu Einem Ding wird, davon man sich einen bestimmten Begriff machen kann; dass die mannigfaltigen Teile desselben so sein müssen, dass eben dadurch das Werk zu dem Ding wird, das es nach jenem Begriff sein soll. So wird der Baumeister, wenn ihm aufgetragen wird, ein Gebäude zu entwerfen, sich zuerst bemühen, den Begriff desselben bestimmt zu bilden; danach wird er die mannigfaltigen Teile des Gebäudes so erfinden und so zusammen ordnen, dass aus ihrer Vereinigung das Gebäude gerade zu dem wird, was es sein sollte. Der Maler wird zuerst sich angelegen sein lassen, den Begriff der Sache, die er vorstellen soll, festzusetzen; danach wird er in seiner Einbildungskraft jedes einzelne aufsuchen, wodurch die Sache dazu wird, was sie sein soll.

 Der Begriff von dem Wesen einer Sache, wodurch sie die Einheit bekommt, ist nicht immer klar und es ist auch zu Bemerkung der Vollkommenheit oder

Schönheit einer Sache nicht allemal notwendig; er kann ziemlich dunkel und dennoch hinreichend sein, die Vollkommenheit und Schönheit der Sache zu empfinden. So empfinden wir die Vollkommenheit und Schönheit des menschlichen Körpers bei einer sehr dunkeln Vorstellung seines Wesens2. Eben so kann ein bloß dunkler Begriff von einer gewissen Lage des Gemüts schon hinlänglich sein, dass wir einen Gesang, eine Ode oder eine Elegie, welche diese Gemütslage ausdrucken soll, sehr schön finden. Aber, wo wir uns gar keinen Begriff von Einheit machen können, wo wir gar nicht fühlen, wie das Mannigfaltige, das wir sehen, sich zusammen schickt, da können uns einzelne Teile gefallen, aber der ganze Gegenstand kann kein Wohlgefallen in uns erwecken.

 Hieraus folgt denn auch dieses, dass jeder einzelne Teil eines Werks, der in den Begriff des Ganzen nicht hineinpasst, der keine Verbindung mit den anderen hat und also der Einheit entgegen steht, eine Unvollkommenheit und ein Übelstand sei, der auch Missfallen erweckt. So macht in einer Erzählung ein Umstand, der zu dem Geist der Sache, zu dem Wesentlichen nichts beiträgt; im Drama eine Person, die mit den übrigen gar nicht zusammenpasst, einen Fehler gegen die Einheit.

Ein noch weit beträchtlicherer Fehler aber ist es, wenn mehr wesentliche Einheiten bloß zufällig in ein einziges Werk verbunden werden. Ein solches Werk beruht auf zwei Hauptvorstellungen, die keine Verbindung als etwa eine bloß zufällige, unter einander haben, die doch auf einmal sollten in eine einzige Vorstellung zusammen begriffen werden. Da ist es unmöglich zu sagen, was das Werk sein soll. Zu einem Beispiel hiervon kann das berühmte Gemälde des großen Raphaels von der Verklärung Christi angeführt werden oder das Gemälde des Ludwig Caraccio, da der Erzengel Michael die gefallenen Geister in den Abgrund stürzt, zugleich aber der Ritter St. George den Drachen umbringt. So ist in manchem Drama mehr als eine Handlung, dass es unmöglich wird zu sagen, was das Ganze sein soll.

 Alles, was bis dahin über die Einheit angemerkt worden ist, betrifft die Einheit des Wesens eines Gegenstandes. Es gibt aber außer dieser Einheit noch andre, die man einigermaßen zufällige Einheiten nennen könnte. So könnte ein historisches Gemälde in Ansehung der Personen und der Handlung eine völlige Einheit haben und in zufälligen Dingen ganz ohne Einheit sein; der Maler könnte z. B. für jede Figur ein besonders einfallendes Licht annehmen und dadurch würde die Einheit der Erleuchtung aufgehoben; oder er könnte für jede Gruppe des Gemäldes einen besonderen Ton der Farbe wählen. Auch in dem Zufälligen beleidigt der Mangel der Einheit. Denn indem wir eine Geschichte vorgestellt sehen, so entsteht auch zugleich in uns der Begriff von der Einheit des Orts und der Zeit. Findet sich nun in dem, was wir sehen, etwas, das diesen Begriffen widerspricht, so müssen wir notwendig Missfallen daran empfinden. Also muss sich der Künstler, der ein vollkommenes Werk machen will, nicht nur die Einheit seines Wesens, sondern auch die Einheit des Zufälligen bestimmt vorstellen.

 Aus den hier angeführten Anmerkungen lässt sich leicht abnehmen, dass auch zu Beurteilung eines Werks die Entdeckung oder Bemerkung seines Wesens und seiner daher entstehenden Einheit schlechterdings notwendig ist. Wer nicht, wenigstens dunkel, fühlt, was ein Ding sein soll und wohin das einzelne darin sich vereinigt, der kann seine Vollkommenheit weder erkennen noch empfinden. Daher kommt es ohne Zweifel, dass über eine Sache oft so sehr verschiedene Urteile gefällt werden. Ohne allen Zweifel beurteilen wir jede Sache nach einem Idealbegriff, der in uns liegt, nach welchem wir jedes, das in der Sache ist als dahin einpassend oder ihm widersprechend annehmen oder verwerfen. Wer sich ein solches Ideal nicht bilden kann, der weiß auch nicht, woher er jedes, das er hört oder sieht, beurteilen soll. Daher bemerkt er bloß den Eindruck jedes einzelnen Teiles als eines für sich bestehenden Dinges. Ist er damit zufrieden, so ur teilt er, dass auch das Ganze schön sei. Auf diese Art findet mancher eine Rede schön, weil ihm darin viel einzelne Redensarten und Ausdrücke an und für sich selbst gefallen; da ein anderer, der einen gänzlichen Mangel des Plans im Ganzen entdeckt, diese Rede mit großem Missfallen anhört.

 

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1 S. Schönheit, Vollkommenheit.

2 S. Schönheit.

 


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