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[Volkelts »Ästhetik des Tragischen«]

Hier in dieser Zeitligkeit
    Ist bedecket meine Crohne
Mit dem Flohr der Traurigkeit;
    Dorten/ da sie mir zum Lohne
Aus Genaden ist gestellet/
    Ist sie frey/ und gantz umhellet.

Johann Georg Schiebel:
Neuerbauter Schausaal*


Es sind die Elemente der griechischen Tragödie — die tragische Fabel, der tragische Held und der tragische Tod —, die man, wie immer unter den Händen verständnisloser Nachahmer entstellt, im Trauerspiel, und zwar als wesentliche, hat wiedererkennen wollen. Andererseits — und das hätte in der kritischen Geschichte der Kunstphilosophie weit mehr Belang — hat man in der Tragödie, in der der Griechen nämlich, eine frühe Form des Trauerspiels, wesensverwandt der spätem, sehen wollen. Die Philosophie der Tragödie ist demgemäß ohne alle Beziehung auf historische Sachgehalte in einem System von allgemeinen Sentiments, das man in den Begriffen ›Schuld‹ und ›Sühne‹ logisch unterbaut sich dachte, als Theorie der sittlichen Weltordnung durchgeführt worden. Diese Weltordnung wurde, der naturalistischen Dramatik zuliebe, in der Theorie der dichtenden und philosophierenden Epigonen der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts mit ganz erstaunlicher Naivität natürlicher Kausalverknüpfung angenähert und somit das tragische Schicksal zu einer Verfassung, »die sich in dem Zusammenwirken des Einzelnen mit der gesetzmäßig geordneten Umwelt zum Ausdruck bringt«2. So jene ›Ästhetik des Tragischem, die eine förmliche Kodifikation der genannten Vorurteile ist und auf der Annahme beruht, das Tragische vermöge voraussetzungslos in gewissen faktischen Konstellationen, wie das Leben sie kennt, zur Gegebenheit gebracht werden. Nichts anderes will es besagen, wenn »die moderne Weltanschauung« als das Element bezeichnet wird, »in dem allein das Tragische seine ungehemmt kraftvolle und folgerichtige Entwicklung finden kann«3. »So muß die moderne Weltanschauung denn auch über den tragischen Helden, dessen Schicksale von den wunderbaren Eingriffen einer transzendenten Macht abhängen, urteilen, daß er in eine unhaltbare, einer geläuterten Einsicht nicht standhaltende Weltordnung hineingestellt ist, und daß die von ihm dargestellte Menschlichkeit den Charakter des Eingeengten, Belasteten, Unfreien an sich trägt.«4 Diese so ganz vergebliche Bemühung, das Tragische als allgemeinmenschlichen Gehalt zu vergegenwärtigen erklärt zur Not, wie seiner Analyse mit Vorbedacht der Eindruck kann zugrunde gelegt werden, »den wir moderne Menschen empfangen, wenn wir die Gestalten, die alte Völker und vergangene Zeiten dem tragischen Schicksal in ihren Dichtungen gegeben haben, künstlerisch auf uns wirken lassen«5. Nichts ist in Wahrheit problematischer, als die Kompetenz der ungeleiteten Gefühle des ›modernen Menschen‹, zumal im Urteil über die Tragödie. Und diese Einsicht ist nicht nur in der vierzig Jahre vor der »Ästhetik des Tragischen« erschienenen »Geburt der Tragödie« mit Gründen belegt, sondern durch das bloße Faktum, daß die moderne Bühne keine Tragödie, die der der Griechen ähnelt, aufweist, höchlich nahgelegt. Mit der Verleugnung dieses Sachverhalts bekunden solche Lehren von dem Tragischen die Anmaßung, Tragödien müßten heut noch zu verfassen sein. Sie ist ihr wesentliches, ihr verborgenes Motiv und eine Theorie des Tragischen, geeignet dies Axiom der kulturellen Hoffart zu erschüttern, war eben dadurch verdächtig. Geschichtsphilosophie ward ausgeschieden. Wenn aber ihre Perspektiven als unerläßliches Stück einer Tragödienlehre sich erweisen sollten, so leuchtet ein, daß diese dort nur zu erwarten ist, wo eine Forschung in den Stand der eigenen Epoche Einsicht aufweist. Dies ist denn auch der archimedische Punkt, den neuere Denker, insbesondere Franz Rosenzweig und Georg Lukács, in Nietzsches Jugendwerk ergriffen haben. »Vergebens wollte unsere demokratische Zeit eine Gleichberechtigung zum Tragischen durchsetzen; vergeblich war jeder Versuch, den seelisch Armen dieses Himmelreich zu öffnen.«6



  1. Johannes Volkelt: Ästhetik des Tragischen. 3. neu bearbeitete Aufl. München 1917. S. 469 f.
  2. L. c. S. 469.
  3. L. c. S. 450.
  4. L. c. S. 447.
  5. Georg von Lukács: Die Seele und die Formen. Essays. Berlin 1911. S. 370 f.