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[Spiel und Reflexion]

Die werdende Formensprache des Trauerspiels kann durchweg als Entfaltung der kontemplativen Notwendigkeiten gelten, die in der theologischen Situation der Epoche beschlossen liegen. Und deren eine, wie der Ausfall aller Eschatologie sie mit sich bringt, ist der Versuch, Trost im Verzicht auf einen Gnadenstand im Rückfall auf den bloßen Schöpfungsstand zu finden. Hier wie in anderen Lebenssphären des Barock ist die Umsetzung der ursprünglich zeitlichen Daten in eine räumliche Uheigentlichkeit und Simultaneität bestimmend. Sie führt tief ins Gefüge dieser Dramenform hinein. Wo das Mittelalter die Hinfälligkeit des Weltgeschehens und die Vergänglichkeit der Kreatur als Stationen des Heilswegs zur Schau stellt, vergräbt das deutsche Trauerspiel sich ganz in die Trostlosigkeit der irdischen Verfassung. Kennt es eine Erlösung, so liegt sie mehr in der Tiefe dieser Verhängnisse selbst als im Vollzuge eines göttlichen Heilsplans. Die Abkehr von der Eschatologie der geistlichen Spiele kennzeichnet das neue Drama in ganz Europa; nichtsdestoweniger ist die besinnungslose Flucht in eine unbegnadete Natur spezifisch deutsch. Denn Spaniens Drama — das höchste jenes europäischen Theaters —, in welchem die barocken Züge so viel glänzender, so viel markanter, so viel glücklicher sich im katholisch kultivierten Land entfalten, löst die Konflikte eines gnadenlosen Schöpfungsstandes gewissermaßen spielerisch verkleinert im höfischen Umkreise eines als säkularisierte Heilsgewalt sich erweisenden Königtums. Die stretta des dritten Aktes mit ihrem indirekten gleichsam Spiegel-, kristall- oder marionettenhaften Einschluß der Transzendenz verbürgt dem Calderonschen Drama einen Ausgang, der deutschen Trauerspielen überlegen ist. Es kann den Anspruch, an den Gehalt des Daseins zu rühren, nicht verleugnen. Wenn dennoch das weltliche Drama an der Grenze der Transzendenz innehalten muß, sucht es auf Umwegen, spielhaft, ihrer sich zu vergewissern. Nirgends ist das deutlicher als im ›Leben ein Traum‹, wo es im Grunde eine dem Mysterium adäquate Ganzheit ist, in der der Traum als Himmel waches Leben überwölbt. Sittlichkeit ist in ihm zuständig: »Doch sey's Traum, sey's Wahrheit eben: | Recht thun muß ich; war' es Wahrheit, | Deßhalb, weil sie's ist; und war' es | Traum, um Freunde zu gewinnen, | Wenn die Zeit uns wird erwecken.«1 Nirgend anders als bei Calderon wäre denn auch die vollendete Kunstform des barocken Trauerspiels zu studieren. Nicht zum wenigsten die Genauigkeit, mit der ›Trauer‹ und ›Spiel‹ aufeinander sich stimmen können, macht seine Geltung — Geltung des Worts wie die des Gegenstandes — aus. — Die Geschichte des Spielbegriffs in der deutschen Ästhetik kennt drei Perioden: Barock, Klassik, Romantik. Ist es dabei dem ersten überwiegend ums Produkt, so ist's der zweiten um die Produktion zu tun; der dritten um beides. Die Anschauung des Lebens selbst als eines Spiels, die a fortiori so das Kunstwerk nennen muß, ist der Klassik fremd. Schillers Theorie des Spieltriebs hatte es auf die Entstehung und Wirkung der Kunst abgesehen, nicht auf die Struktur ihrer Werke. ›Heiter‹ können sie sein, wo das Leben ›ernst‹ ist, spielerisch aber nur sich darstellen, wo auch das Leben vor einer auf das Unbedingte gerichteten Intensität seinen letzten Ernst verloren hat. Das ist, in wie verschiedener Weise auch immer, für Barock und Romantik der Fall gewesen. Und zwar für beide derart, daß in den Formen und Stoffen weltlicher Kunstübung diese Intensität ihren Ausdruck sich zu schaffen hatte. Ostentativ betonte sie das Spielmoment im Drama und ließ nur weltlich verkleidet als Spiel im Spiel die Transzendenz zu ihrem letzten Worte kommen. Nicht immer ist die Technik offenkundig, indem die Bühne selber auf der Bühne aufgeschlagen oder gar der Zuschauer-Raum in den der Bühne einbezogen wird. Doch stets liegt nur in einer paradoxen Reflexion von Spiel und Schein für das eben damit ›romantische‹ Theater der profanen Gesellschaft die heilende und lösende Instanz. Jene Absichtlichkeit, von der Goethe gesagt hat, daß ihr Schein jedem Kunstwerk eigne, zerstreut im idealen romantischen Trauerspiel des Calderon die Trauer. Denn in der Machination hat die neue Bühne den Gott. Für die barocken Trauerspiele der Deutschen ist es kennzeichnend, daß jenes Spiel in ihnen nicht mit dem Glanze der spanischen noch mit der Durchtriebenheit der späteren romantischen Produktionen sich abrollt. Das Motiv, von dem die stärksten Prägungen die Lyrik des Andreas Gryphius fand, haben sie dennoch. Nachhaltig ist es von Lohenstein in der Widmung zur »Sophonisbe« variiert worden. »Wie nun der Sterblichen ihr gantzer Lebens-Lauf | Sich in der Kindheit pflegt mit Spielen anzufangen/ | So hört das Leben auch mit eitel Spielen auf. | Wie Rom denselben Tag mit Spielen hat begangen/ | An dem August gebohrn; so wird mit Spiel und Pracht | Auch der Entleibten Leib in sein Begräbnüs bracht ... | Der blinde Simson bringt sich spielend in das Grab; | Und unsre kurtze Zeit ist nichts als ein Getichte. | Ein Spiel/ in dem bald der tritt auf/ bald jener ab; | Mit Thränen fängt es an/ mit Weinen wirds zu nichte. | Ja nach dem Tode pflegt mit uns die Zeit zu spieln/ | Wenn Fäule/ Mad' und Wurm in unsern Leichen wühln.«2 Gerade im monströsen Verlauf der »Sophonisbe« ist die spätere Entwicklung des Spielhaften wie es durch das hochbedeutende Medium des Puppentheaters ins Groteske einerseits, ins Subtile auf der anderen Seite eingeht, vorgebildet. Die abenteuerlichen Wendungen sind dem Dichter bewußt: »Die für den Ehmann itzt aus Liebe sterben wil/ | Hat in zwey Stunden sein' und ihrer Hold vergessen. | Und Masanissens Brunst ist nur ein Gauckelspiel/ | Wenn er der/ die er früh für Liebe meint zu fressen/ | Den Abend tödtlich Gift als ein Geschencke schickt/ | Und/ der erst Buhler war/ als Hencker sie erdrückt. | So spielet die Begierd und Ehrgeitz in der Welt!«3 Unter solchem Spiel braucht nicht ein zufälliges, es darf ebensowohl ein berechnendes und planmäßiges und somit eins von Puppen gedacht werden, die Ehrgeiz und Begierde an ihrem Faden halten. Unbestreitbar allerdings bleibt, daß im siebzehnten Jahrhundert das deutsche Drama noch nicht zur Entfaltung jenes kanonischen Kunstmittels gekommen ist, kraft dessen das romantische Drama von Calderon bis Tieck immer von neuem zu umrahmen und zu verkleinern verstand: der Reflexion. Kommt die doch nicht allein in der romantischen Komödie als eines ihrer vornehmsten Kunstmittel zur Geltung, sondern ebenso in ihrer sogenannten Tragödie, dem Schicksalsdrama. Dem Drama Calderons vollends ist sie, was der gleichzeitigen Architektur die Volute. Ins Unendliche wiederholt sie sich selbst und ins Unabsehbare verkleinert sie den Kreis, den sie umschließt. Gleich wesentlich sind diese beiden Seiten der Reflexion: die spielhafte Reduzierung des Wirklichen wie die Einführung einer reflexiven Unendlichkeit des Denkens in die geschlossne Endlichkeit eines profanen Schicksalsraums. Denn die Welt der Schicksalsdramen — so viel sei hier vorgreifend bemerkt — ist eine in sich geschlossene. Sie war es zumal bei Calderon, in dessen Herodesdrama ›Eifersucht das größte Scheusal‹ man das früheste Schicksalsdrama der Weltliteratur hat sehen wollen. Es war die sublunarische Welt im strengen Sinne, eine Welt der elenden oder prangenden Kreatur, an der ad maiorem dei gloriam und zur Augenweide der Beschauer die Regel des Schicksals planvoll und überraschend zugleich sich bestätigen sollte. Nicht umsonst hat ein Mann wie Zacharias Werner, ehe er in die katholische Kirche flüchtete, sich am Schicksalsdrama versucht. Dessen nur scheinbar heidnische Weltlichkeit ist in Wahrheit das profane Komplement des kirchlichen Mysteriendramas. Was aber auch die theoretisch gerichteten Romantiker so magisch an Calderon fesselte, daß man ihn trotz Shakespeare, vielleicht ihren Dramatiker kat' exochên nennen darf, das ist die beispiellose Virtuosität der Reflexion, die seine Helden jederzeit bei der Hand haben, um in ihr die Schicksalsordnung wie einen Ball in Händen zu wenden, der bald von dieser, bald von jener Seite zu betrachten ist. Was anders haben die Romantiker zuletzt ersehnt, als das in den goldenen Ketten der Autorität verantwortungslos reflektierende Genie? Doch gerade diese beispiellose spanische Vollendung, die, so hoch sie künstlerisch steht, rechnerisch immer noch um eine Stufe höher zu stehen scheint, läßt die Statur des Barockdramas, die aus der Einfriedung der reinen Dichtung sich erhebt, vielleicht in mancher Hinsicht weniger klar hervortreten als das deutsche Drama, in welchem eine Grenznatur viel weniger in dem Primate des Artistischen verhüllt als in demjenigen des Moralischen verraten wird. Der Moralismus des Luthertums, immer bestrebt, wie so nachdrücklich seine Berufsethik es bekundet, die Transzendenz des Glaubenslebens an die Immanenz des täglichen zu binden, hat niemals die entschiedene Konfrontation der menschlich-irdischen Verlegenheit mit fürstlich-hierarchischer Potenz, auf der die Auflösung so vieler Calderonscher Dramen ruht, erlaubt. Der Schluß der deutschen Trauerspiele ist daher wie minder formvoll so auch weniger dogmatisch, er ist — moralisch, sicherlich nicht künstlerisch — verantwortlicher als der der spanischen. Demungeachtet ist es anders gar nicht denkbar, als daß die Untersuchung mannigfach Zusammenhänge trifft, die für die gehaltvolle und gleich verschlossene Form des Calderon belangvoll sind. Je weniger im folgenden der Ort sich für Exkurse und Verweise bietet, um so entschiedner hat die Untersuchung die grundsätzliche Relation zum Trauerspiel des Spaniers klarzustellen, dem das gleichzeitige Deutschland nichts an die Seite zu setzen hat.



  1. Don Pedro Calderon de la Barca: Schauspiele. Übers, von J[ohann] D[iederich] Gries. Bd 1. Berlin 1815. S. 295 (Das Leben ein Traum III).
  2. Lohenstein: Afrikanische Trauerspiele l.c. [S. 63]. S. 251 (Sophonisbe, Widmung 229 ff. u. 241 ff.).
  3. L.c. S. 248 (Sophonisbe, Widmung 133 ff.).