[Einfluß des Aristoteles bedeutungslos]
Die Geschichte des neueren deutschen Dramas kennt keine Periode, in der die Stoffe der antiken Tragiker einflußloser gewesen wären. Dies allein zeugt gegen die Herrschaft des Aristoteles. Zu seinem Verständnis fehlte alles und der Wille nicht zum wenigsten. Denn ernsthafte Unterweisung technischer und stofflicher Art, wie sie vor allem der niederländischen Klassik und dem Jesuitentheater seit Gryphius immer wieder entnommen wurde, suchte man bei dem griechischen Autor selbstverständlich nicht. Das Wesentliche war, durch die Anerkennung seiner Autorität die Fühlung mit der Renaissancepoetik des Scaliger und damit die Legitimität der eigenen Unternehmungen zu behaupten. Zudem war Mitte des siebzehnten Jahrhunderts die aristotelische Poetik noch nicht das einfache und imposante Dogmengefüge, mit dem Lessing sich auseinandersetzte. Trissino, erster Kommentator der »Poetik«, zieht zunächst zur Ergänzung der temporalen Einheit die der Handlung heran: Einheit der Zeit gilt als ästhetisch nur, wenn sie auch die der Handlung mit sich führt. An diese Einheiten haben Gryphius und Lohenstein sich gehalten — vom »Papinian« könnte die der Handlung sogar bestritten werden. Mit diesem isolierten Faktum ist das Inventar ihrer vom Aristoteles bestimmten Züge abgeschlossen. Eine genauere Bedeutung gibt die damalige Theorie der Einheit der Zeit nicht. Die Harsdörffersche, vom Herkömmlichen sonst nicht unterschieden, erklärt denn auch eine Handlung von vier bis fünf Tagen noch als statthaft. Einheit des Orts, die erst seit Castelvetro in der Diskussion erscheint, kommt fürs barocke Trauerspiel nicht in Frage; auch das Jesuitentheater kennt sie nicht. Beweiskräftiger noch ist die Indifferenz, mit der die Handbücher der aristotelischen Theorie von der tragischen Wirkung begegnen. Nicht als ob dieser Teil der »Poetik«, dem noch deutlicher als dem andern die Bestimmtheit durch den kultischen Charakter des griechischen Theaters an der Stirn geschrieben steht, dem Verständnis des siebzehnten Jahrhunderts besonders zugänglich gewesen sein müßte. Doch je unmöglicher das Eindringen in diese Lehre, in der die Theorie der Läuterung durch die Mysterien wirkte, sich erwies, desto freieren Spielraum hätte die Interpretation gehabt. Diese ist ebenso schmächtig in ihrem Gedankengehalt wie schlagend in der Beugung der antiken Intention. Furcht und Mitleid denkt sie nicht als Anteil am integralen Ganzen der Aktion, sondern als den am Schicksal der markantesten Figuren. Furcht weckt das Ende des Bösewichts, Mitleid dasjenige des frommen Helden. Birken scheint auch diese Definition noch zu klassisch und statt Furcht und Mitleid setzt er Gottes Ehre und die Erbauung der Mitbürger als Zweck der Trauerspiele ein. »Wir Christen sollen/ gleichwie in allen unsren Verrichtungen/ also auch im Schauspiel-schreiben und Schauspielen das einige Absehen haben/ daß Gott damit geehret/ und der Neben-Mensch zum Guten möge belehrt werden«1. Die Tugend seiner Beschauer hat das Trauerspiel zu ertüchtigen. Und gab es eine, welche seinen Helden obligat und seinem Publikum erbaulich war, so ist es die alte apatheia. Die Bindung der stoischen Ethik an die Theorie der neuen Tragödie war in Holland vollzogen worden, und Lipsius hatte bemerkt, nur als ein tätiger Impuls, die fremden Leiden und Bekümmernisse zu erleichtern, nicht aber als ein pathologischer Zusammenbruch beim Anblick eines fürchterlichen Schicksals, nicht als pusillanimitas sondern nur als misericordia sei das aristotelische eleos zu verstehen.2 Kein Zweifel, solche Glossen stehen neben der Beschreibung, die Aristoteles von der Betrachtung der Tragödien bietet, wesensfremd. So ist es denn immer wieder das einzige Faktum des königlichen Helden, das der Kritik den Anlaß gab, das neue Trauerspiel auf die alte Tragödie der Griechen zu beziehen. Und nicht sachgemäßer als mit der in der Sprechweise des Trauerspiels selbst verlautbarten berühmten Definition des Opitz wird daher die Erkundung seiner Sonderart einsetzen können.
- Teutsche Rede-bind- und Dicht-Kunst/ verfasset durch Den Erwachsenen [Sigmund von Birken]. Samt dem Schauspiel Psyche und Einem Hirten-Gedichte. Nürnberg 1679. S. 336.↩
- Cf. Wilhelm Dilthey: Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation. Abhandlungen zur Geschichte der Philosophie und Religion. (Gesammelte Schriften. 2.) Leipzig, Berlin 1923. S. 445.↩