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[Tragödie und Sage]

Wilamowitz definiert: »eine attische tragödie ist ein in sich abgeschlossenes stück der heldensage, poetisch bearbeitet in erhabenem stile für die darstellung durch einen attischen bürgerchor und zwei bis drei Schauspieler, und bestimmt als teil des öffentlichen gottesdienstes im heiligtume des Dionysos aufgeführt zu werden.«1 An anderer Stelle: »so führt eine jede betrachtung zuletzt auf das Verhältnis der tragödie zur sage zurück, darin liegt die wurzel ihres wesens, daher stammen ihre besondern Vorzüge und schwächen, darin liegt der unterschied der attischen tragödie von jeder andern dramatischen poesie.«2 Die philosophische Bestimmung der Tragödie hat hier anzuheben und zwar wird sie es mit der Einsicht tun, daß diese nicht als bloße theatralische Gestalt der Sage sich ergreifen läßt. Denn die Sage ist ihrer Natur nach tendenzlos. Die Ströme der Überlieferung, wie sie von oft entgegengesetzten Seiten in heftiger Aufwallung niederstürzen, haben zuletzt im epischen Spiegel eines geteilten, vielarmigen Bettes sich beruhigt. Der epischen stellt sich die tragische Dichtung als tendenziöse Umformung der Tradition entgegen. Wie intensiv und wie bedeutungsvoll sie umzubilden wußte, zeigt das Ödipusmotiv.3 Dennoch haben ältere Theoretiker, wie Wackernagel, recht, wenn sie Erfindung für unvereinbar mit dem Tragischen erklären.4 Die Umbildung der Sage nämlich geschieht nicht auf der Suche nach tragischen Konstellationen, sondern in der Ausprägung einer Tendenz, die alle Bedeutung verlöre, wenn es nicht mehr Sage, Urgeschichte des Volks wäre, an der sie sich kund täte. Nicht also ein ›Niveaukonflikt‹5 zwischen dem Heiden und der Umwelt schlechthin, wie Schelers Untersuchung »Zum Phänomen des Tragischen« ihn für bezeichnend erklärt, bildet die Signatur der Tragödie, sondern die einmalige griechische Art solcher Konflikte. Worin ist sie zu suchen? Welche Tendenz verbirgt sich im Tragischen? Wofür stirbt der Held? — Die tragische Dichtung ruht auf der Opferidee. Das tragische Opfer aber ist in seinem Gegenstande — dem Helden — unterschieden von jedem anderen und ein erstes und letztes zugleich. Ein letztes im Sinne des Sühnopfers, das Göttern, die ein altes Recht behüten, fällt; ein erstes im Sinn der stellvertretenden Handlung, in welcher neue Inhalte des Volkslebens sich ankündigen. Diese, wie sie zum Unterschiede von den alten todbringenden Verhaftungen nicht auf oberes Geheiß, sondern auf das Leben des Heros selbst zurückweisen, vernichten ihn, weil sie, inadäquat dem Einzelwillen, allein dem Leben der noch ungeborenen Volksgemeinschaft den Segen bringen. Der tragische Tod hat die Doppelbedeutung, das alte Recht der Olympischen zu entkräften und als den Erstling einer neuen Menschheitsernte dem unbekannten Gott den Helden hinzugeben. Aber auch dem tragischen Leiden, wie Äschylos in der »Orestie«, Sophokles im »Ödipus« es darstellt, kann diese Doppelkraft einwohnen. Tritt in dieser Gestalt der Sühnecharakter des Opfers weniger hervor, so desto klarer seine Verwandlung, welche Ersatz des Todverfallenseins durch einen Anfall ausdrückt, der dem alten Bewußtsein von Göttern und Opfer ebensowohl genugtat wie sichtlich in die Form des neuen sich kleidet. Tod wird dabei zur Rettung: Todeskrisis. Ein ältestes Beispiel ist die Ablösung der Schlachtung des Menschen am Altare durch Entlaufen vor dem Messer des Opferers, das heißt Herumlaufen um den Altar mit schließlichem Anfassen des Altars durch den Todgeweihten, wobei der Altar zum Asyl, der zornige Gott zum gnädigen, der zu Tötende zum Gottes-Gefangenen und -Diener wird. Dies ist ganz das Schema der »Orestie«. Diese agonale Prophetie unterscheidet ihre Beschränkung auf den Umkreis des Todes, ihre unbedingte Angewiesenheit auf die Gemeinde und vor allem die nichts weniger als garantierte Endgültigkeit ihrer Lösung und Erlösung von aller episch-didaktischen. Woher aber am Ende das Recht, von einer ›agonalen‹ Darstellung zu sprechen? ein Recht, welches aus der hypothetischen Ableitung des tragischen Vorgangs aus dem Opferlauf um die Thymele noch nicht hinreichend dürfte gestützt werden können. Zunächst darin erweist es sich, daß die attischen Bühnenspiele in Gestalt von Wettkämpfen vor sich gingen. Nicht die Dichter allein, auch die Protagonisten, ja die Choregen traten in Konkurrenz. Innerlich aber gründet dies Recht in der stummen Beklemmung, welche jeder tragische Vollzug nicht sowohl den Zuschauern mitteilt als in seinen Personen zur Schau stellt. Unter ihnen vollzieht er sich in der sprachlosen Konkurrenz des Agon. Die Unmündigkeit des tragischen Helden, welche die Hauptfigur der griechischen Tragödie gegen jeden späteren Typus abhebt, hat die Analyse des »metaethischen Menschen« durch Franz Rosenzweig zu einem Grundstein der Tragödienlehre gemacht. »Denn das ist das Merkzeichen des Selbst, das Siegel seiner Größe wie auch das Mal seiner Schwäche: es schweigt. Der tragische Held hat nur eine Sprache, die ihm vollkommen entspricht: eben das Schweigen. So ist es von Anfang an. Das Tragische hat sich gerade deshalb die Kunstform des Dramas geschaffen, um das Schweigen darstellen zu können ... Indem der Held schweigt, bricht er die Brücken, die ihn mit Gott und Welt verbinden, ab und erhebt sich aus den Gefilden der Persönlichkeit, die sich redend gegen andre abgrenzt und individualisiert, in die eisige Einsamkeit des Selbst. Das Selbst weiß ja von nichts außer sich, es ist einsam schlechthin. Wie soll es diese seine Einsamkeit, dieses starre Trotzen in sich selbst, anders betätigen als eben indem es schweigt? Und so tut es in der äschyleischen Tragödie, wie schon den Zeitgenossen auffiel.«6 Das tragische Schweigen, wie diese Worte es bedeutungsvoll vorstellen, darf doch vom Trotz allein nicht beherrscht gedacht werden. Dieser Trotz bildet vielmehr in der Erfahrung der Sprachlosigkeit ebenso sich heran, wie sie an ihm sich bestärkt. Der Gehalt der Heroenwerke gehört der Gemeinschaft wie die Sprache. Da die Volksgemeinschaft ihn verleugnet, so bleibt er sprachlos im Helden. Und der muß jedes Tun und jedes Wissen je größer, je weiter hinaus wirkend es wäre desto gewaltsamer in die Grenzen seines physischen Selbst förmlich einschließen. Nur seiner Physis, nicht der Sprache dankt er, wenn er zu seiner Sache halten kann und daher muß er es im Tode tun. Den gleichen Zusammenhang visiert Lukács, wenn er in der Darstellung der tragischen Entscheidung bemerkt: »Das Wesen dieser großen Augenblicke des Lebens ist das reine Erlebnis der Selbstheit.«7 Deutlicher bekundet eine Stelle bei Nietzsche es, daß der Sachverhalt des tragischen Schweigens ihm nicht entgangen ist. Ohne daß er dessen Bedeutung als Phänomen des Agonalen in dem tragischen Bereich vermutet hätte, berührt seine Konfrontation von Bild und Rede ihn genau. Die tragischen »Helden sprechen gewissermaßen oberflächlicher als sie handeln; der Mythus findet in dem gesprochnen Wort durchaus nicht seine adäquate Objectivation. Das Gefüge der Scenen und die anschaulichen Bilder offenbaren eine tiefere Weisheit, als der Dichter selbst in Worte und Begriffe fassen kann«8. Schwerlich freilich handelt es sich dabei, wie Nietzsche weiterhin meint, um ein Mißlungensein. Je weiter das tragische Wort hinter der Situation zurückbleibt — die tragisch nicht mehr heißen darf, wo es sie erreicht —, desto mehr ist der Held den alten Satzungen entronnen, denen er, wo sie am Ende ihn ereilen, nur den stummen Schatten seines Wesens, jenes Selbst als Opfer hinwirft, während die Seele ins Wort einer fernen Gemeinschaft hinübergerettet ist. Der tragischen Darstellung der Sage wuchs daraus unerschöpfliche Aktualität zu. Im Angesicht des leidenden Helden lernt die Gemeinde den ehrfürchtigen Dank für das Wort, mit dem dessen Tod sie begabte — ein Wort, das mit jeder neuen Wendung, die der Dichter der Sage abgewann, an anderer Stelle als erneuertes Geschenk aufleuchtete. Das tragische Schweigen weit mehr noch als das tragische Pathos wurde zum Hort einer Erfahrung vom Erhabnen des sprachlichen Ausdrucks, die soviel intensiver im antiken Schrifttum zu leben pflegt als in dem späteren. — Die griechische, die entscheidende Auseinandersetzung mit der dämonischen Weltordnung gibt auch der tragischen Dichtung ihre geschichtsphilosophische Signatur. Das Tragische verhält sich zum Dämonischen wie das Paradoxon zur Zweideutigkeit. In allen Paradoxien der Tragödie — im Opfer, das, alter Satzung willfahrend, neue stiftet, im Tod, der Sühne ist und doch das Selbst nur hinrafft, im Ende, das den Sieg dem Menschen dekretiert und dem Gotte auch — ist die Zweideutigkeit, das Stigma der Dämonen, im Absterben. Überall ist, wie schwach auch immer, der Akzent gesetzt. So auch im Schweigen des Helden, das Verantwortung weder findet noch sucht und dergestalt den Verdacht auf die Instanz der Verfolger zurückwirft. Denn seine Bedeutung schlägt um: nicht die Betroffenheit des Angeschuldigten, sondern das Zeugnis sprachlosen Leidens erscheint in den Schranken und die Tragödie, die da gewidmet schien dem Gerichte über den Helden, wandelt sich zur Verhandlung über die Olympischen, bei der jener den Zeugen abgibt und wider Willen der Götter »die Ehre Des Halbgotts«9 kundmacht. Der tiefe äschyleische Zug nach Gerechtigkeit10 beseelt die widerolympische Prophetie aller tragischen Dichtung. »Nicht das Recht, sondern die Tragödie war es, in der das Haupt des Genius aus dem Nebel der Schuld sich zum ersten Male erhob, denn in der Tragödie wird das dämonische Schicksal durchbrochen. Nicht aber, indem die heidnisch unabsehbare Verkettung von Schuld und Sühne durch die Reinheit des entsühnten und mit dem reinen Gott versöhnten Menschen abgelöst würde. Sondern in der Tragödie besinnt sich der heidnische Mensch, daß er besser ist als seine Götter, aber diese Erkenntnis verschlägt ihm die Sprache, sie bleibt dumpf. Ohne sich zu bekennen sucht sie heimlich ihre Gewalt zu sammeln ... Es ist gar keine Rede davon, daß die ›sittliche Weltordnung‹ wieder hergestellt werde, sondern es will der moralische Mensch noch stumm, noch unmündig — als solcher heißt er der Held — im Erbeben jener qualvollen Welt sich aufrichten. Das Paradoxon der Geburt des Genius in moralischer Sprachlosigkeit, moralischer Infantilität ist das Erhabene der Tragödie.«11



  1. Wilamowitz-Moellendorff l.c. [S. 38]. S. 107.
  2. L.c. S. 119.
  3. Cf. Max Wundt: Geschichte der griechischen Ethik. 1. Bd: Die Entstehung der griechischen Ethik. Leipzig 1908. S. 178 f.
  4. Cf. Wackemagel l.c. [S. 85]. S. 39.
  5. Cf. Scheler l.c. [S. 21]. S. 266 ff. [Ges. Werke. 3, l.c. [S. 21]. S. 166 ff.]
  6. Franz Rosenzweig: Der Stern der Erlösung. Frankfurt a.M. 1921. S. 98 f. — Cf. Walter Benjamin: Schicksal und Charakter. In: Die Argonauten 1. Folge (1914 ff.), 2. Bd (1915 ff.), Heft 10-12 (1921), S. 187-196. [Schriften. 1, l.c. [S.31 f.]. S. 31-39.]
  7. Lukács l.c. [S. 103]. S. 336.
  8. Nietzsche: Werke. 1,1, l.c. [S. 103]. S. 118.
  9. [Friedrich] Hölderlin: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Unter Mitarbeit von Friedrich Seebaß besorgt durch Norbert v[on] Hellingrath. Bd 4: Gedichte 1800-1806. München, Leipzig 1916. S. 195 (Patmos, 1. Niederschrift, 144 f.).
  10. Cf. Wundt l.c. [S. 108]. S. 193 ff.
  11. Benjamin: Schicksal und Charakter l.c. [S. 111]. S. 191. [Schriften. 1, l.c. [S.31 f.]. S. 35.]