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[Ursprung]

In der Unmöglichkeit einer deduktiven Entwicklung der Kunstformen, in der damit gesetzten Entkräftung der Regel als kritischer Instanz — eine Instanz der künstlerischen Unterweisung wird sie immer bleiben —, ist Grund zu einer fruchtbaren Skepsis gelegt. Sie ist dem tiefen Atemholen des Gedankens zu vergleichen, nach dem er ans Geringste sich mit Muße und ohne die Spur einer Beklemmung zu verlieren vermag. Vom Geringsten wird nämlich überall dort die Rede sein, wo die Betrachtung sich in Werk und Form der Kunst versenkt, um ihren Gehalt zu ermessen. Die Hast, die sich an ihnen mit dem Griffe übt, mit dem man fremdes Eigentum verschwinden läßt, ist Routinierten eigen und um nichts besser als die Bonhommie des Banausen. Für die wahre Kontemplation dagegen verbindet sich die Abkehr vom deduktiven Verfahren mit einem immer weiter ausholenden, immer inbrünstigem Zurückgreifen auf die Phänomene, die niemals in Gefahr geraten, Gegenstände eines trüben Staunens zu bleiben, solange ihre Darstellung zugleich die der Ideen und darin erst ihr Einzelnes gerettet ist. Selbstverständlich ist der Radikalismus, der die ästhetische Terminologie einer Anzahl ihrer besten Prägungen berauben, die Kunstphilosophie zum Schweigen bringen würde, auch für Croce nicht letztes Wort. Vielmehr heißt es: »Wenn man den theoretischen Wert der abstrakten Klassifikation leugnet, so heißt das nicht den theoretischen Wert jener genetischen und konkreten Klassifikation leugnen, die übrigens nicht ›Klassifikation‹ ist, die vielmehr Geschichte genannt wird.«1 Mit diesem dunklen Satze streift der Autor, nur leider allzusehr beeilt, den Kern der Ideenlehre. Ihn läßt ein Psychologismus, der seine Bestimmung der Kunst als ›Ausdruck‹ durch eine andere, als ›Intuition‹, zersetzt, das nicht gewahren. Es bleibt ihm verschlossen, wie die von ihm als ›genetische Klassifikation‹ bezeichnete Betrachtung mit einer Ideenlehre von den Kunstarten im Problem des Ursprungs übereinkommt. Ursprung, wiewohl durchaus historische Kategorie, hat mit Entstehung dennoch nichts gemein. Im Ursprung wird kein Werden des Entsprungenen, vielmehr dem Werden und Vergehen Entspringendes gemeint. Der Ursprung steht im Fluß des Werdens als Strudel und reißt in seine Rhythmik das Entstehungsmaterial hinein. Im nackten offenkundigen Bestand des Faktischen gibt das Ursprüngliche sich niemals zu erkennen, und einzig einer Doppeleinsicht steht seine Rhythmik offen. Sie will als Restauration, als Wiederherstellung einerseits, als eben darin Unvollendetes, Unabgeschlossenes andererseits erkannt sein. In jedem Ursprungsphänomen bestimmt sich die Gestalt, unter welcher immer wieder eine Idee mit der geschichtlichen Welt sich auseinandersetzt, bis sie in der Totalität ihrer Geschichte vollendet daliegt. Also hebt sich der Ursprung aus dem tatsächlichen Befunde nicht heraus, sondern er betrifft dessen Vor- und Nachgeschichte. Die Richtlinien der philosophischen Betrachtung sind in der Dialektik, die dem Ursprung beiwohnt, aufgezeichnet. Aus ihr erweist in allem Wesenhaften Einmaligkeit und Wiederholung durcheinander sich bedingt. Die Kategorie des Ursprungs ist also nicht, wie Cohen meint,2 eine rein logische, sondern historisch. Das Hegelsche ›Desto schlimmer für die Tatsachen‹ ist bekannt. Im Grunde will es besagen: die Einsicht in die Wesenszusammenhänge liegt beim Philosophen und Wesenszusammenhänge bleiben was sie sind, auch wenn sie sich in der Welt der Fakten rein nicht ausprägen. Diese echt idealistische Haltung erkauft ihre Sicherheit, indem sie das Kernstück der Ursprungsidee preisgibt. Denn jeder Ursprungsnachweis muß vorbereitet auf die Frage nach der Echtheit des Aufgewiesenen sein. Kann er sich als echt nicht beglaubigen, so trägt er seinen Titel zu Unrecht. Mit dieser Überlegung scheint für die höchsten Gegenstände der Philosophie die Unterscheidung der quaestio juris von der quaestio facti aufgehoben. Das ist unbestreitbar und unvermeidlich. Die Folgerung jedoch ist nicht, daß unverzüglich jedes frühe ›Faktum‹ als wesenprägendes Moment zu nehmen wäre. Vielmehr beginnt die Aufgabe des Forschers hier, der ein solches Faktum dann erst für gesichert zu halten hat, wenn seine innerste Struktur so wesenhaft erscheint, daß sie als einen Ursprung es verrät. Das Echte — jenes Ursprungssiegel in den Phänomenen — ist Gegenstand der Entdeckung, einer Entdeckung, die in einzigartiger Weise sich mit dem Wiedererkennen verbindet. Im Singulärsten und Verschrobensten der Phänomene, in den ohnmächtigsten und unbeholfensten Versuchen sowohl wie in den überreifen Erscheinungen der Spätzeit vermag Entdeckung es zu Tag zu fördern. Nicht um Einheit aus ihnen zu konstruieren, geschweige ein Gemeinsames aus ihnen abzuziehen, nimmt die Idee die Reihe historischer Ausprägungen auf. Zwischen dem Verhältnis des Einzelnen zur Idee und zum Begriff findet keine Analogie statt: hier fällt es unter den Begriff und bleibt was es war — Einzelheit; dort steht es in der Idee und wird was es nicht war — Totalität. Das ist seine platonische ›Rettung‹.



  1. L.c. S. 48. [Gesammelte philosophische Schriften. 2, 2, l. c. S. 45.]
  2. Cf. Hermann Cohen: Logik der reinen Erkenntnis. (System der Philosophie. I.) 2. Aufl. Berlin 1914. S. 35 f.