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[Christliche Chronik und Trauerspiel]

In ihm ist der Verwandtschaft des barocken Dramas mit kirchlich-mittelalterlichen zu gedenken, wie sie sich im Passionscharakter zeigt. Doch hat sich die Verweisung vom Verdacht müßigen Analogisierens, das die Stilanalyse nicht fördert, sondern verdunkelt, angesichts der Apercus einer Literatur, die unter Herrschaft der Einfühlung steht, zu reinigen. In diesem Sinne wäre zu bemerken, die Darstellung der mittelalterlichen Elemente im Drama des Barock und seiner Theorie sei hier zu lesen als ein Prolegomenon zu weitern Auseinandersetzungen von mittelalterlicher und barocker Geisteswelt, wie sie in anderem Zusammenhang begegnen werden. Daß mittelalterliche Theorien im Zeitalter der Religionskriege wieder aufleben,1 daß in »Staat und Wirtschaft, in Kunst und Wissenschaft«2 vorerst noch das Mittelalter herrschend blieb, daß seine Überwindung, ja Benennung im Lauf des siebzehnten Jahrhunderts erst erfolgt,3 das alles ist längst ausgesprochen worden. Wendet der Blick gewissen Einzelheiten sich zu, so überrascht die Fülle der Belege. Selbst eine rein statistische Kompilation aus der Poetik der Epoche kommt zum Schluß, der Kern der Tragödiendefinitionen sei »genau derselbe, wie in den grammatikalischen und lexikalischen Werken des Mittelalters«4. Und was besagt es gegen die schlagende Verwandtschaft jener Opitzschen Definition mit der kurrenten mittelalterlichen eines Boethius oder Placidus, wenn Scaliger, der sonst mit ihnen wohlverträglich ist, mit Beispielen gegen ihre Unterscheidung von tragischer und komischer Dichtung, die ja bekanntlich über das Dramatische hinausgriff, auftrat.5 Sie lautet in dem Text des Vincenz von Beauvais: »Est autem Comoedia poesis, exordium triste laeto fine commutans. Tragoedia vero poesis, a laeto principio in tristem finem desinens.«6 Ob dieses traurige Ereignis in verteilter Rede oder in prosaischem Fluß sich gibt, gilt als ein beinah wesenloser Unterschied. Demgemäß hat Franz Joseph Mone überzeugend die Bindung zwischen mittelalterlichem Schauspiel und mittelalterlicher Chronik dargetan. Es zeigt sich, »daß die Weltgeschichte von den Chronikschreibern als ein großes Trauerspiel angesehen (wurde) und die Weltchroniken mit den altdeutschen Schauspielen zusammen hängen. In so fern nämlich der jüngste Tag der Schluß jener Chroniken ist, wie das Ende des Dramas der Welt, so hängt die christliche Geschichtschreibung freilich mit dem christlichen Schauspiele zusammen, und es kommt hier darauf an, die Äußerungen der Chronikschreiber zu beachten, welche diesen Zusammenhang deutlich angeben. Otto von Freisingen sagt (praefat ad Frid. imp.): cognoscas, nos hanc historiam ex amaritudine animi scripsisse, ac ob hoc non tarn rerum gestarum seriem quam earundem miseriam in modum tragoediae texuisse. Er wiederholt dieselbe Ansicht in der praefat. ad Singrimum: in quibus (libris) non tarn historias quam aerumnosas mortalium calamitatum tragoedias prudens lector invenire poterit. Die Weltgeschichte war also dem Otto eine Tragödie, zwar nicht der Form aber dem Inhalt nach.«7 Fünfhundert Jahre später, bei Salmasius, ist es dieselbe Anschauungsweise: »Ce qui restoit de la Tragedie iusques à la conclusion a esté le personnage des Independans, mais on a veu les Presbyteriens iusques au quatriesme acte et au delà, occuper auec pompe tout le theatre. Le seul cinquiesme et dernier acte est demeure pour le partage des Independans; qui ont paru en cette scene, apres auoir sifflé et chassé les premiers acteurs. Peut estre que ceux-là n'auroient pas fermé la scene par vne si tragique et sanglante catastrophe«8. Hier, weitab von dem Gehege der hamburgischen, geschweige der nachklassischen Dramaturgie, in der »Tragödie«, die das Mittelalter vielleicht mehr noch in die dürftige Überlieferung der antiken Dramenstoffe hineininterpretierte, als in seinen Mysterien realisiert sah, eröffnet sich die Formwelt des barocken Trauerspiels.



  1. Cf. Alfred v(on) Martin: Coluccio Salutati's Traktat »Vom Tyrannen«. Eine kulturgeschichtliche Untersuchung nebst Textedition. Mit einer Einleitung über Salutati's Leben und Schriften und einem Exkurs über seine philologisch-historische Methode. Berlin, Leipzig 1913. (Abhandlungen zur Mittleren und Neueren Geschichte. 47.) S. 48.
  2. Flemming: Andreas Gryphius und die Bühne l.c. [S. 61]. S. 79.
  3. Cf. Burdach l.c. [S. 23]. S. 135 f., sowie S. 215 (Anm.).
  4. Georg Popp: Über den Begriff des Dramas in den deutschen Poetiken des 17. Jahrhunderts. Diss., Leipzig 1895. S. 80.
  5. Cf. Ivlii Caesaris Scaligeri [Julius Caesar Scaliger] a Bvrden, viri clarissimi, Poetices libri septem. I Historicvs, II Hyle, III Idea, IV Parasceve, V Criticvs, VI Hypercriticvs, VII Epinomis. Ad Syluium filium. Editio qvinta. [Genf] 1617. S. 333 f. (III, 96).
  6. Bibliotbeca mvndi sev specvli maioris Vincentii Bvrgvndi praesvlis Bellovacensis [Vincenz von Beauvais], ordinis praedicatorvm, theologi ac doctoris eximii, tomvs secvndvs, qvi specvlvm doctrinale inscribitvr: In quo omnium artium & scientiarum perfecta encyclopaedia continetur. Omnia nunc accuratè recognita, distinctè ordinata, suis vnicuique autori redditis exactè sententÿs; summarÿs praetereà et obseruationibus, quibus anteà carebant, illustrata. Operâ & studio Theologorum Benedictinorvm Collegij Vedastini in Alma Academia Dvacensi. Dvaci 1624. Sp. 287.
  7. Schauspiele des Mittelalters. Aus den Handschriften hrsg. und erklärt von F[ranz] J[oseph] Mone. Bd I. Karlsruhe 1846. S. 336.
  8. Apologie royale povr Charles I, roy d''Angleterre. Par messire Clavde de Savmaise, cheualier de l'Ordre du Roy, conseiller en ses conseils, seigneur de Saint Loup, etc. Paris 1650. S. 642 f.