[Natürliche und tragische Schuld]
Schicksal rollt dem Tode zu. Er ist nicht Strafe sondern Sühne, ein Ausdruck der Verfallenheit des verschuldeten Lebens an das Gesetz des natürlichen. Im Schicksal und im Schicksalsdrama ist die Schuld zu Hause, um die man oft die Theorie des Tragischen gruppierte. Diese Schuld, die nach den alten Satzungen von außen durch das Unglück den Menschen zuwachsen sollte, nimmt im Verlauf des tragischen Geschehns ein Held auf sich und in sein Inneres. Indem er im Selbstbewußtsein sie reflektiert, entwächst er ihrer dämonischen Botmäßigkeit. Wenn »Bewußtheit ihrer Schicksalsdialektik« bei tragischen Helden gesucht, »mystischer Rationalismus«1 in den tragischen Reflexionen gefunden wurde, so ist vielleicht — doch der Zusammenhang läßt es bezweifeln und macht die Worte äußerst problematisch — die neue, die tragische Schuld des Helden gemeint. Paradox wie alle Manifestationen der tragischen Ordnung besteht sie nur im stolzen Schuldbewußtsein, in dem der Heldenhafte der ihm angesonnenen Verknechtung des »Unschuldigen« unter die dämonische Schuld entwächst. Im Sinne des tragischen Helden und in diesem allein gilt, was Lukács ausführt: »Von außen gesehen gibt es keine Schuld, kann es keine geben; jeder sieht die Schuld des anderen als Verstrickung und Zufall an, als etwas, das jedes kleinste Anders-gewesen-sein eines Windhauches anders hätte gestalten können. Durch die Schuld aber sagt der Mensch Ja zu allem, was ihm geschehen ist ... Die hohen Menschen ... lassen nichts los, das einmal ihrem Leben gehört hat: darum haben sie die Tragödie als ihr Vorrecht.«2 Hegels berühmter Satz ist damit variiert: »Es ist die Ehre der großen Charaktere, schuldig zu seyn.«3 Immer ist dies die Schuld der durch die Tat nicht, durch den Willen Schuldigen, während im Felde des dämonischen Schicksals nichts als der Akt es ist, dessen hämischer Zufall Schuldlose in den Abgrund allgemeiner Schuld hinabreißt.4 Der alte Fluch, der über Geschlechter hin sich erbte, wird in der tragischen Poesie zum innern, selbstgefundenen Gut der heldischen Person. Und so erlischt er. Dagegen wirkt er sich im Schicksalsdrama aus und dergestalt, in einer Unterscheidung der Tragödie von dem Trauerspiel, erhellt sich die Bemerkung, daß das »Tragische nur wie ein unsteter Geist zwischen den Personen der blutigen ›Tragödien‹ hin und her«5 zu ziehn pflege. »Das Subjekt des Schicksals ist unbestimmbar.«6 Daher kennt das Trauerspiel keinen Helden, sondern nur Konstellationen. Die Mehrheit der Hauptpersonen, wie sie in so vielen barocken Dramen — Leo und Balbus im »Leo Armenius«, Catharina und Chach Abas in der »Catharina von Georgien«, Cardenio und Celinde im gleichnamigen Drama, Nero und Agrippina, Masinissa und Sophonisbe bei Lohenstein — begegnet, ist untragisch, dem traurigen Schauspiele aber angemessen.
- Lukács l.c. [S. 103]. S. 352 f.↩
- L.c. S. 355 f.↩
- Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe ... Hrsg. von Hermann Glockner. 14. Bd: Vorlesungen über die Ästhetik. 3. Stuttgart 1928. S. 553.↩
- Cf. Walter Benjamin: Zur Kritik der Gewalt. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 47 (1920/21), S. 828 (Heft 3; August '21). (Schriften. 1, l.c. [S. 31 f.]. S. 24 f.)↩
- Ehrenberg l.c. [S. 128]. Bd 2: Tragödie und Kreuz, S. 53. (Hervorhebung von Benjamin.)↩
- Benjamin: Schicksal und Charakter l.c. [S. 111]. S. 192. [Schriften. 1, l.c. [S. 31 f.]. S. 35. — Cf. überhaupt Benjamin: Goethes Wahlverwandtschaften l.c. [S. 107]. S. 98 ff. [Schriften. 1, l.c. S. 69 ff.]; sowie Benjamin: Schicksal und Charakter l.c. S. 189-192. [Schriften. 1, l.c. S. 33-36.]↩