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[Barocke Theorie des Trauerspiels]

Die notwendige Richtung aufs Extreme, als welche in philosophischen Untersuchungen die Norm der Begriffsbildung gibt, hat für eine Darstellung vom Ursprung des deutschen Barocktrauerspiels zweierlei zu besagen. Erstens weist sie die Forschung an, unbefangen die Breite des Stoffes ins Auge zu fassen. Angesichts der ohnedies nicht allzu großen Fülle der dramatischen Produktion, soll ihr Anliegen nicht darin bestehen, in ihm, wie die Literaturgeschichte mit Recht dies täte, nach Schulen der Dichter, Epochen des Œuvres, Schichten der Einzelwerke zu suchen. Vielmehr wird sie überall von der Annahme sich leiten lassen, was diffus und disparat erscheint in den adäquaten Begriffen als Elemente einer Synthesis gebunden zu finden. Sie wird in diesem Sinn die Zeugnisse geringerer Dichter, in deren Werken das Absonderlichste häufig ist, nicht leichter schätzen als die der größeren. Ein anderes ist es eine Form verkörpern, ein anderes sie ausprägen. Ist das erste Sache der erwählten Dichter, so geschieht das zweite oft unvergleichlich markant in den mühseligen Versuchen der schwächeren. Die Form selbst, deren Leben nicht identisch mit dem von ihr bestimmter Werke ist, ja deren Ausprägung bisweilen umgekehrt proportional zu der Vollendung einer Dichtung stehen kann, wird gerade an dem schmächtigen Leib der dürftigen Dichtung, als ihr Skelett gewissermaßen, augenfällig. Zum zweiten schließt das Studium der Extreme Rücksicht auf die barocke Theorie des Dramas ein. Die Biederkeit der Theoretiker in der Verlautbarung ihrer Vorschriften ist ein besonders reizvoller Zug dieser Literatur und ihre Regeln sind extrem schon aus dem Grund, weil sie mehr oder weniger bindend sich geben. So gehen denn die Exzentrizitäten dieses Dramas zum großen Teil auf die Poetiken zurück, und da sogar die wenigen Schablonen seiner Fabel aus Theoremen wollen abgeleitet sein, so weisen die Handbücher der Dichter als unentbehrliche Quellen der Analyse sich aus. Wären sie kritisch im modernen Sinne, ihr Zeugnis würde belangloser sein. Rückgang auf sie wird nicht allein vom Gegenstand erfordert, sondern handgreiflich durch den Stand der Forschung gerechtfertigt. Sie ist durch Vorurteile der stilistischen Klassifizierung und der ästhetischen Beurteilung bis in die neuere Zeit behindert worden. Die Entdeckung des literarischen Barock ist so spät und unter so zweideutigen Sternen erfolgt, weil eine allzu bequeme Periodisierung ihre Merkmale und Daten aus den Traktaten vergangener Zeiten zu ziehen liebt. Da in Deutschland ein literarisches »Barock« nirgends manifest geworden ist — der Ausdruck begegnet sogar für die bildende Kunst erst im achtzehnten Jahrhundert —, da die klare, laute, kriegerische Proklamation nicht Sache von Literaten war, denen höfischer Ton als Muster im Sinne lag, so wollte man auch später diesem Blatte der deutschen Literaturgeschichte keine besondere Überschrift zugestehen. »Der unpolemische Sinn ist ein das gesamte Barock scharf kennzeichnendes Merkmal. Jeder sucht möglichst lang, auch wenn er eigener Stimme folgt, den Anschein festzuhalten, als schritte er die Wege der geliebten Lehrer und bewährten Autoritäten«1. Darüber darf auch das gesteigerte Interesse an dem poetischen Disput, wie es gleichzeitig mit den entsprechenden Passionen der römischen Malerakademien aufkam,2 nicht täuschen. So hat sich die Poetik denn in Variationen der ›Poetices libri septem‹ des Julius Caesar Scaliger bewegt, die 1561 erschienen waren. Klassizistische Schemata herrschen: »Gryphius ist der unbestrittene Altmeister, der deutsche Sophokles, hinter dem Lohenstein als deutscher Seneca einen sekundären Platz einnimmt, und nur mit Einschränkung wird ihnen Hallmann, der deutsche Aischylus, an die Seite gestellt.«3 Und einer renaissancehaften Fassade der Poetiken entspricht unleugbar etwas in den Dramen. Ihre stilistische Originalität, soviel darf vorgreifend bemerkt werden, ist in den Einzelheiten ungleich größer als im ganzen. Was dieses angeht, eignet in der Tat, wie Lamprecht4 schon hervorhebt, eine Schwerfälligkeit und trotz allem auch eine Einfalt der Handlung, die an das bürgerliche Stück der deutschen Renaissance von fern gemahnt. Im Licht ernsthafter Stilkritik jedoch, der nicht erlaubt ist, das Ganze anders denn in seiner Bestimmtheit durchs Detail ins Auge zu fassen, treten die renaissancefremden, um nicht zu sagen die barocken Züge allerorten, von der Sprache und dem Gehaben der Handelnden bis zur Bühneneinrichtung und Stoffwahl hervor. Zugleich erhellt und wird zu zeigen sein, daß auf die hergebrachten Texte der Poetik Akzente fallen, die die barocke Interpretation ermöglichen, ja wie die Treue gegen sie barocken Intentionen besser diente als Revolte. Der Wille zur Klassizität ist fast der einzige — und doch durch seine Wildheit, seine Rücksichtslosigkeit wie sehr sie überbietende — echtbürtiger Renaissance eigene Zug einer Dichtung gewesen, welche sehr unvermittelt sich vor formale Aufgaben gestellt sah, denen sie durch keine Schulung gewachsen war. Jeder Versuch, antiker Form sich nähernd, mußte, unangesehen des im Einzelfalle Erreichten, durch die Gewaltsamkeit das Unternehmen für höchst barocke Ausgestaltung disponieren. Die Vernachlässigung der stilistischen Analyse solcher Versuche durch die Literaturwissenschaft ist aus dem Verdikt, das über die Epoche des Schwulsts, der Sprachverderbnis, der Gelehrtenpoesie von ihr gefällt ward, zu erklären. Sofern sie es durch die Erwägung zu beschränken suchte, die Schule der aristotelischen Dramaturgie sei nun einmal ein notwendiges Durchgangsstadium für die renaissancistische Dichtung Deutschlands gewesen, begegnete sie einem Vorurteil mit einem zweiten. Beide hängen zusammen, weil die These von der Renaissanceform des deutschen Dramas im siebzehnten Jahrhundert gestützt wird durch den Aristotelismus der Theoretiker. Wie lähmend die aristotelischen Definitionen sich der Besinnung auf den Wert der Dramen widersetzten, ward bemerkt. An dieser Stelle ist hervorzuheben, daß der Einfluß der aristotelischen Doktrin aufs Drama des Barock im Terminus der ›Renaissancetragödie‹ überschätzt wird.



  1. Filidors [Caspar Stieler?] Trauer- Lust- und Misch-Spiele. Erster Theil. Jena 1665. S. 1 [der besonderen Paginierung von: Ernelinde Oder Die Viermahl Braut. Mischspiel. Rudolstadt o. J. (I, 1)].
  2. Cysarz l.c. (S. 39). S. 72.
  3. Cf. Alois Riegl: Die Entstehung der Barockkunst in Rom. Aus seinem Nachlaß hrsg. von Arthur Burda und Max Dvorak. 2. Aufl. Wien 1923. S. 147.
  4. Paul Stachel: Seneca und das deutsche Renaissancedrama. Studien zur Literatur- und Stilgeschichte des 16. und 17. Jahrhunderts. Berlin 1907. (Palaestra. 46.) S. 326.