2. Thomas Morus


In vollstem Gegensatze zu dem italienischen Realpolitiker steht der erste neuzeitliche Utopist, der englische Kanzler Thomas Morus (1480-1535), der fein gebildete Humanist und Staatsmann, der seine Überzeugungstreue gegenüber dem brutalen Heinrich VIII. mit seiner Hinrichtung zu büßen hatte. Seine lateinisch geschriebene Utopia (Nirgendheim), die einer ganzen Literaturgattung den Namen gegeben hat, ist seit ihrem ersten Erscheinen (1516, deutsch zuerst 1524) sehr oft herausgegeben worden. Die hier zum erstenmal seit Plato wiederkehrende ausführliche Zeichnung eines Idealstaates ist nicht, wie man vielfach angenommen hat, das phantasievolle Erzeugnis einer müßigen Stunde, sondern in ernster Absicht erdacht. Das geht schon aus dem einleitenden, durchaus historisch gehaltenen Teile hervor, der das traurige Los der Massen in England in sehr realistischen Zügen schildert. Und bei aller romanhaften Einkleidung, bei einzelnen asketischen und religiösen Zügen, die den frommen Katholiken, neben einem geistigen Aristokratismus, der den Freund des Erasmus verrät, sind doch hier schon eine ganze Reihe Probleme berührt, die heute den sozialen Denker aufs ernstlichste beschäftigen: die Aufhebung des Privateigentums zugunsten eines wirtschaftlichen Kommunismus, die Organisation der Arbeit, die Frauenfrage, das Übervölkerungsproblem. Bereits hier wird die Abschaffung des Eigentumsrechtes erörtert, das Recht auf Arbeit und der Sechsstundentag gerechtfertigt, die gewöhnlichen Einwände gegen die Durchführbarkeit der sozialistischen Idee widerlegt, die »kleinen« und »großen« Mittel unterschieden, auf die unverjährbaren Rechte der Natur gegenüber dem bloßen Zufall der Geburt hingewiesen. Besonders bemerkenswert für einen praktischen Staatsmann des 16. Jahrhunderts ist Morus' ausgeprägte Abneigung gegen den Krieg. Morus war seiner Zeit weit voraus. Ein Schatten fällt allerdings auch auf seinen Idealstaat: für die niedrigsten Arbeiten existiert eine Art mit Zwangsarbeit behafteter Sklavenstand, aus den Verbrechern des eigenen und fremder Länder und freiwillig sich verdingenden Tagelöhnern des Auslandes bestehend; die Kinder sind übrigens wieder frei. »Nichts wird eben,« wie Morus einmal sagt, »gut und vollkommen sein, wenn nicht die Menschen gut und vollkommen sind.«

Morus' Utopia fand zwar große Verbreitung, indes erst im 17. Jahrhundert zahlreichere Nachfolger: Campanellas Sonnenstaat (1630, s. § 3), die Fragment geblichene Nova Atlantis Bacos von Verulam (1621), die Oceana des Engländers Harrington (1656) und des Franzosen Vairasse »Geschichte der Sevaramben« (1677). In der Zeit der Religionskriege und der Entwicklung zum absoluten Königtum nahmen andere staats- und rechtsphilosophische Probleme das öffentliche und gelehrte Interesse in höherem Grade in Anspruch.


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