1. Empiristen
(Vives, Ramus)


1. Die humanistische, auf unverfälschte und vorurteilslose Erkenntnis des Menschen und der Natur gerichtete Bewegung pflanzte sich von Italien allmählich in alle europäischen Kulturländer fort. Ihre Vorkämpfer in Deutschland haben wir schon zu Anfang des vorigen Paragraphen kennen gelernt.

a) In Spanien war es namentlich Lodovico Vives (geb. 1492 in Valencia, längere Zeit am englischen Hofe, • 1540 in Brügge), ein duldsam denkender Katholik und Freund des Erasmus, der in seiner Flugschrift Gegen die Pseudo-Dialektiker (1519) wider den Autoritätsglauben, die Sprachverderbung und das Wissensideal der Scholastiker samt ihrem Meister Aristoteles zu Felde zog und in seinem großen Werk De disciplinis (1531) auf eine Neubegründung der Wissenschaft durch die Erfahrung drang. Die Metaphysik schätzt er gering, hoch dagegen die Einzelwissenschaften, besonders die experimentelle Naturwissenschaft. Man muß die Natur selbst befragen, wie die Alten es getan. Freilich führt er selbst dies Verfahren noch nicht folgerecht durch. In der Ethik neigt er dem Platonismus und der Stoa zu, deren Lehre auch dem Christentum verwandter sei als die Glückseligkeitslehre des Aristoteles. Am wichtigsten aber ist Vives, wie namentlich F. A. Lange (Artikel Vives in der Schmidschen Enzyklopädie IX, 737-814) nachgewiesen hat, als Begründer einer rein empirischen Psychologie und Erziehungslehre. Wichtiger als die schwierige Frage, was die Seele sei, dünkt ihm zu erforschen, wie sie tätig sei. Demgemäß hält sich sein Buch De anima et vita (Brügge 1538) nicht mehr an die üblichen metaphysisch-theologischen Spekulationen, sondern an die Beschreibungen von Tatsachen, die allerdings zum großen Teil aus Büchern geschöpft sind. Die niederen Formen des organischen Lebens sind die Grundlagen des höheren, bewußten. Die Erkenntnis verlegt er bereits in das Gehirn, mit dessen Schwingungen die Bewußtseinsvorgänge verbunden sind. Die Lebenskraft und die Gemütsbewegungen hängen mit dem Herzen zusammen, wo sich das erste und letzte Lebenszeichen kundgibt. Nur die menschliche Seele ist unmittelbar von Gott geschaffen, die der Tiere und Pflanzen wird von der Natur erzeugt. Vives kann in mancher Beziehung als Vorläufer von Baco und Descartes betrachtet werden, die ihm manches verdanken, ohne ihn zu nennen, während Gassendi (§ 10) ihn rühmend erwähnt und auch Ramus ihm folgt.

b) In ähnlicher Weise eiferte im Italien des 16. Jahrhunderts Nizolius (1498-1576) gegen die »allgemeinen Begriffe« der Scholastiker. Das Wirkliche sind die Einzeldinge, die Wahrnehmung allein gibt unmittelbare Gewißheit. An die Stelle der Metaphysik müssen Physik, Politik und formale Logik bezw. Rhetorik trete. Sein Antibarbarus ist von Leibniz zweimal (1670 und 1674) herausgegeben worden. Unter den Philosophen des Altertums will er keinen als sicheren Führer in der Philosophie betrachtet wissen.

Zu den Reformatoren der Scholastik kann man auch die beiden Italiener Zabarella und Fracastoro zählen, von denen ersterer, Aristoteliker im Sinne Pomponazzis, die Selbsttätigkeit des Erkennens hervorhebt und die kompositive (deduktive) von der resolutiven (induktiven) Methode bestimmt abgrenzt, während der letztere, den Cassirer (a. a. O., S. 208 ff.) zum ersten Male aus seiner Vergessenheit gezogen hat, bereits eine Psychologie des Erkennens, mit einer methodischen Stufenfolge seelischer Tätigkeitsformen, zu begründen versucht. Im allgemeinen aber rücken Kultur und Wissenschaft gegen den Ausgang der Renaissancezeit hin von Süden nach Norden. Italien verliert, Frankreich, England und Deutschland erhalten die Führung.

c) In Frankreich trug als begabtester und formvollendetster Vertreter des Humanismus der durch die Lektüre Platos angeregte Pierre de la Ramée (Petrus Ramus), geb. 1515 als Köhlerssohn, als Calvinist in der Bartholomäusnacht 1572 ermordet, am meisten zur Erschütterung der Scholastik bei. In jugendlicher Überteibung verteidigte er 1536 öffentlich die These, dass alles, was Aristoteles behauptet habe, falsch sei. Seine anfangs verbotenen Schriften und seine glänzende Lehrtätigkeit zogen zeitweilig gegen 2000 Zuhörer nach Paris. Als sein Hauptgebiet betrachtete er die Reform der Logik. In seinen Institutiones dialecticae (1543) suchte er an die Stelle der aristotelischen eine »natürliche« Dialektik zu setzen, ohne doch darin etwas wirklich Neues und Eigenartiges zustande zu bringen. Seine Verbesserungen bezogen sich mehr auf den äußerlichen Gang der logischen Wissenschaft, als deren ersten Teil er die »Erfindung« (inventio), als zweiten die Urteilskraft (iudicium, daher noch bei Kant als Secunda Petri bezeichnet) behandelte, und sind meist grammatisch-rhetorischer Art. Einen wichtigen Fortschritt dagegen bedeutet seine Hochschätzung der Mathematik. Im ganzen aber ist Ramus mehr ein Wortführer der neuen Zeit als selbst schöpferisch. Auch in Deutschland - er lehrte mehrere Jahre in Heidelberg - fand er viele Anhänger; es entstand eine eigene Schule von Ramisten, zu denen u. a. Johannes Sturm (vgl. S. 310) gehörte, die als Anhänger der »neuen« Logik mit den »Antiramisten« in heftiger Fehde lagen.


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